Corona-PandemieWunsch nach Unabhängigkeit wird in Schottland wieder wach
AP/toko
27.8.2020
Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon scheint mit der Coronakrise besser umzugehen als die britische Führung unter Premierminister Johnson. Das nährt erneut das Streben nach schottischer Unabhängigkeit. Aber Sturgeon weiss um die Fallstricke.
Grossbritannien ist der verheerenden Corona-Pandemie, so die weit verbreitete Meinung, mit effektiver Politik entgegengetreten. Nur hat Premierminister Boris Johnson nichts damit zu tun. Während Johnson durch die grösste nationale Krise seit Jahrzehnten eher zu stolpern statt zu steuern scheint, wird die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon allseits für ihr nüchternes und geradliniges Management gelobt.
Dies weckt erneut die Vorstellung von einem unabhängigen Schottland - ein langgehegter Traum der nationalistischen Regierung Sturgeons. Dabei schien die Sache erledigt, als die Schotten 2014 in einem Referendum die Loslösung von Grossbritannien mit 55 zu 45 Prozent ablehnten.
Doch seit dem Brexit und dem Ausbruch von Covid-19 «gibt es Hinweise, dass die Anker des Bundes in Bewegung geraten», sagt Tom Devine, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität von Edinburgh. Sturgeons Regierung habe gezeigt, «dass sie die grösste Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg meistern kann. Und das bedeutet für manche Menschen, die der Unabhängigkeit vielleicht eher unentschlossen gegenüber standen, dass sie auch eine eigene, richtige Regierung haben könnten.»
Aktuelle Studien unterstützen diese Ansicht. «Zum ersten Mal haben wir in den Umfragen über einen längeren Zeitraum hinweg mehr Befürworter als Gegner der Unabhängigkeit», sagt der Politikprofessor John Curtice von der Universität in Strathclyde.
Zu Beginn der Pandemie im März arbeiteten die vier Teile des Vereinigten Königreiches - England, Schottland, Wales und Nordirland - noch zusammen und verhängten landesweite Ausgangsbeschränkungen. Doch Schottlands Erste Ministerin Sturgeon war viel vorsichtiger darin, die Regeln wieder zu lockern, als Premierminister Johnson in England. Schottische Bars und Restaurants etwa blieben länger geschlossen, auch vor Reisen und Zusammenkünften wurde weiter gewarnt.
Sturgeon trägt in der Öffentlichkeit oft eine Gesichtsmaske mit schottischem Tartanmuster und tritt mehrmals in der Woche vor die Presse. Johnson hat dies seit Juni nicht mehr getan. «Ich finde, sie macht das grossartig», sagt Pamela McGregor, die eine Kneipe in der schottischen Hauptstadt Edinburgh führt. «Sie ist sehr gelassen und sehr respektvoll.»
«Mehr auf die Menschen eingelassen»
Politikexperte Curtice sagt, Sturgeon habe sich in der harten Zeit der Pandemie «viel mehr auf die Menschen eingelassen» als Johnson. «Die britische Regierung ist sehr abwehrend und gibt Fehler nur ungern zu.» Auch habe Johnson darauf gedrungen, der Wirtschaft zuliebe die Menschen wieder zur Arbeit zu schicken.
Die britische Regierung wurde schon früh in der Pandemie erschüttert, als sowohl Johnson als auch Gesundheitsminister Matt Hancock sich mit dem Virus infizierten. Johnson verbrachte drei Nächte auf der Intensivstation. Seine Regierung vollzog mehrere Kehrtwenden, darunter bei der Maskenpflicht und bei der Quarantäne für Rückkehrer aus dem Ausland.
Das Vertrauen der Bevölkerung litt weiter, als Johnsons Chefberater Dominic Cummings die Corona-Regeln brach und im Auto 400 Kilometer zu seinen Eltern fuhr - und seinen Job behielt. Als dagegen die oberste Gesundheitsexpertin der schottischen Regierung, Catherine Calderwood, ihren eigenen Rat, zu Hause zu bleiben, missachtete und stattdessen zu ihrem Zweitwohnsitz reiste, trat sie binnen Stunden zurück.
Mitunter aber liegen die Unterschiede eher im Stil: Schottland machte zu Beginn der Pandemie die gleichen Fehler wie das Vereinigte Königreich, insbesondere beim fehlenden Schutz der Menschen in Pflegeheimen, in denen viele starben. In Schottland sind 4200 Menschen im Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben, bei einer Bevölkerungszahl von 5,5 Millionen ergibt dies eine der höchsten Todesraten pro Kopf in Europa. In England leben zehnmal so viele Menschen, und es wurden laut offiziellen Zahlen rund 50'000 Tote mit Covid-19 gezählt. In der Summe sind beide Zahlen höher als die offizielle Corona-Opferzahl des Vereinigten Königreiches von mehr als 41'000.
Kein Unterschied unter der Motorhaube
Ramsay Jones, der einst Ex-Premierminister David Cameron beriet, sagt, Sturgeon sei eine begabte Kommunikatorin, habe aber die Corona-Krise grösstenteils in Abstimmung mit der britischen Regierung gehandhabt: «Hat sie irgendwas grundlegend anders gemacht? Eigentlich nicht», sagt Jones: «Ihr Auto glänzt vielleicht mehr, aber unter der Motorhaube gibt es keinen Unterschied.»
Sturgeon weiss um die Herausforderung, ihre gestiegenen Zustimmungswerte für die Unabhängigkeit zu nutzen. Die Wahlen für das schottische Parlament sind für Mai angesetzt. Wenn Sturgeons Scottish National Party wie erwartet die Mehrheit holt, wird sie wahrscheinlich ein neues Unabhängigkeitsreferendum fordern. Doch soll es auch bindend sein, muss die britische Regierung zustimmen — was Johnson ablehnt.
Dazu kommt ein Untersuchungsausschuss, der prüfen soll, ob Sturgeons Regierung angemessen mit Vorwürfen gegen den früheren Regierungschef Alex Salmond zu mutmasslichen sexuellen Übergriffen umgegangen ist. Die Unterstützer der Unabhängigkeit sind ermutigt, aber auch misstrauisch: «Es gibt da das Gefühl, dass wir ein bisschen festgefahren sind», sagt der Aktivist Gerry Mulvenna aus Edinburgh.
Auch gilt es, die Wähler davon zu überzeugen, dass ein unabhängiges Schottland auch wirtschaftlich florieren wird — keine leichte Aufgabe in einer unsicheren Zeit. Viele Schotten sagen, dass sie dringendere Sorgen haben. Normalerweise drängen sich die Menschen im August durch die Strassen Edinburghs, wo Kunstfestivals die Stadt in einen internationalen Tummelplatz der Kreativen verwandeln.
Dieses Jahr ist es ungewöhnlich still. Viele Geschäfte sind noch geschlossen oder kommen kaum über die Runden. «Ich will mich lieber darum kümmern, wie ich in der Pandemie überleben kann», sagt Kneipenchefin McGregor. «Die Unabhängigkeit wäre schon schön, aber ich denke, es ist jetzt nicht an der Zeit.»