Dokumente in Sessel entdecktZufallsfund eröffnet Historiker die Geschichte eines Nazis
Von Felix Schröder, dpa
21.3.2021 - 10:50
Eine Frau entdeckt in ihrem Sessel alte Unterlagen eines Mannes – gespickt mit Hakenkreuzen. Der britische Historiker Daniel Lee nimmt sich des Falles an und recherchiert die Lebensgeschichte eines Nazis.
DPA, Von Felix Schröder, dpa
21.03.2021, 10:50
dpa
Möglicherweise sitzen sie beim Lesen dieses Textes in einem Sessel. Was würde er ihnen wohl erzählen, wenn er reden könnte? Eine Studentin kaufte in Prag Ende der 1960er-Jahre einen alten Sessel und stellt sich keine Fragen zu dem vorherigen Besitzer – erst Jahrzehnte später sollte das alte Möbelstück seine Geschichte preisgeben.
Der Historiker Daniel Lee hat 2011 gerade promoviert, als eine Freundin ihm auf einer Party eine Frau vorstellt. Sie bittet ihn um Rat – ihrer Mutter sei etwas Eigenartiges passiert. Sie berichtete Lee von einem Lehnsessel, den ihre Mutter vor einiger Zeit wegen eines Polsterwechsels zum Fachmann gebracht hatte. Der Polsterer entdeckte im Sessel eingenäht alte Papiere mit Hakenkreuzen.
Lee besorgte sich die Dokumente – darunter ein Pass – und entschied, der Geschichte von Robert Griesinger nachzugehen. «Etwas Verstecktes in einem Sessel zu finden, ist einfach unfassbar aufregend, weil es etwas Mysteriöses an sich hat», sagt der Historiker der Queen Mary University of London im Interview. Solche Funde seien nicht so selten. Wenn er Fachleute frage, berichteten sie ihm oft, was sie schon alles gefunden haben.
Spurensuche von den USA bis in die Schweiz
Lee begibt sich auf eine Spurensuche, die ihn nach Stuttgart, Berlin, Prag sowie in die USA und Schweiz führte. Mithilfe eines Telefonbuchs findet er in Stuttgart den Neffen des unbekannten Manns, der dort 1906 geboren war. Der Neffe wohnt im Geburtshaus des Onkels und steht der Recherche offen gegenüber. «Ich fühlte mich sehr erleichtert, dass sie nicht dachten, dass ich komplett verrückt war», sagt Lee.
Er stösst auf ein Tagebuch der verstorbenen Mutter. Je länger er die Spur verfolgt, desto stärker muss er sein anfängliches Bild revidieren. «Als ich in Prag herausfand, dass er in der SS war, war ich schockiert.» Nun sieht er Griesinger vorm inneren Auge als Mann mit berüchtigter schwarzer SS-Uniform, der Juden durch Strassen jagte. Griesinger war SS-Obersturmbannführer. Seine Geschichte mache ihn «zu einem Beispiel für Tausende von anonymen Tätern, deren Handlungen so viele Leben zerstört haben, deren Biografien aber nie ans Licht gebracht worden sind».
Die Biografien von oberen Nationalsozialisten wie Hermann Göring oder Albert Speer sind bekannt. Gerade an Geschichten wie der von Robert Griesinger könne man ablesen, dass der Nationalsozialismus nicht einfach vom Himmel fiel, sondern vorher Weichen für das antisemitische und rassistische Weltbild gestellt worden seien. Gleichzeitig ist das Buch auch eine Reise durch die deutsche Geschichte zwischen 1848 und den jungen Jahren der Bundesrepublik. Lee verwebt geschickt historische Ereignisse und die persönliche Geschichte Griesingers; und er geht weiter in die Tiefe.
Lee erfährt von einer Tochter Griesingers die Geschichte, wie er einem auf der Strasse angefahrenen, schwer verletzten Hund half und zum Tierarzt brachte – die Jacke des Vaters sei blutgetränkt gewesen. «Die Leute nur als Monster zu sehen, hilft uns nicht weiter, um zu verstehen, was da passiert ist», sagt Lee. Diese Leute seien oft normal gewesen, aber konnten schnell zwischen einem netten zu einem gerissenen und abgestumpften Menschen wechseln. Griesinger habe das NS-System wie Millionen andere ermöglicht.
Plötzlich wollen die Töchter mehr wissen
Lee ist nicht nur Historiker in seiner Geschichte. Bei einem Gespräch mit einer Tochter Griesingers offenbart er ihr die SS-Vergangenheit des Vaters. «Mir kam definitiv eine andere Rolle in den Gesprächen zu», sagt er. Plötzlich stellte nicht mehr Lee die Fragen, sondern die Töchter erkundigten sich bei ihm. Viele haben nach dem Krieg nur «Stille erlebt», sagt er. «Eltern haben sich geweigert zu antworten und haben Strategien entwickelt, um Antworten zu vermeiden.»
Lee, selbst Jude, recherchiert auch die Geschichte seiner eigenen Familie, denn ein Teil davon hatte in der Nähe von Kiew gelebt und war den Nazis zum Opfer gefallen. Lees Grossmutter, die lange vor Hitlers Machtergreifung aus Polen nach Grossbritannien emigriert war, tut sich manchmal schwer mit dem Forschungsfeld ihres Enkels. Eines Tages zeigt er seiner ihr die Dokumente Griesingers. «Ich dachte, sie könnte vielleicht interessiert sein, aber sie sagte nur: Bring das sofort aus meinem Haus hinaus und zeig mir das nie wieder.»
Daniel Lee: «Der Sessel – Eine Spur in den Holocaust und die Geschichte eines ganz normalen Täters». DTV-Verlag, 260 Seiten. ISBN 978-3-423-43789-9
«Die Fünfte Kolonne»: Schweizer Faschisten bis 1945
Fundraising von Adolf Hitler am 30. August 1923: die Villa Schönberg in Zürich Enge circa 1900 als Federzeichnung von Louis Saugy. Der Massenmörder besuchte auch Aarau und Schaffhausen, bevor er nach Bayern zurückkehrte.
Bild: Baugeschichtliches Archiv ZH
30'000 Franken soll Hitler in der Schweiz eingestrichen haben, was heute 190'000 Franken entspricht. Im Bild: Einblick ins Innere der Villa Schönberg anno 1898. Rudolf Hess kommt in seiner Studienzeit einmal wöchentlich zum Essen in Willes Villa.
Bild: Baugeschichtliches Archiv ZH
Hektor Ammann war von Anfang an beim Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz dabei und massgeblich für die «Eingabe der Zweihundert» im November 1940. Als man sich 1946 daran erinnert, wird er aus dem Staatsdienst entlassen. Ammann geht ab 1955 nach Deutschland, um zu lehren.
Bild: Gemeinfrei
Eduard Fueter am 10. August 1930: Der damalige Student war in jenem Jahr Mitbegründer der Neuen Front, die 1933 in der Nationalen Front aufging. Während des Krieges und danach machte er Karriere im Hochschulwesen.
Bild: ETH Bibliothek
Auch der Student Robert Tobler hob die Neue Front 1930 mit aus den Angeln und avancierte in der Folgeorganisation Nationale Front gar zum Führer. Der Zürcher sass im Gemeinderat, Kantonsrat und Nationalrat. Nach der Auflösung der Nationalen Front im Frühjahr 1940 gründete er die Eidgenössische Sammlung, die 1943 verboten wurde.
Bild: Schweizerische Landesbibliothek
Landesverrat: Die Nazi-Karriere von Max Leo Keller, hier im Juni 1948 vor dem Bundesstrafgericht in Luzern, steht für die vieler Schweizer Faschisten. Geboren 1897 in Zürich, studierte Keller in der Schweiz (ZH, BE) und Deutschland (Darmstadt) Politik und Ingenieurwesen, arbeitet ab 1918 als Elektroingenieur erst hier, dann in den USA und promoviert 1931.
Bild: Keystone
1932 wird Keller Direktor des Amtes zur Einführung neuer Industrien und betätigt sich ab 1933 als wirtschaftspolitischer Redaktor der Nationalen Front. 1938 bis 1939 hilft er bei der «Neuen Basler [Frontisten-]Zeitung» aus und ist 1940 Mitgründer der Nationalen Bewegung Schweiz NBS. Er emigriert 1941 nach Deutschland. Er wird nach dem Krieg zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Bild: Gemeinfrei
Landespropagandaleiter der Nationalen Front war von 1936 an war Benno Schaeppi. 1938 ist er Mitgründer des St. Galler Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung, wird 1939 merhmals verhaftet und emigriert nach Deutschland. Schaeppi kämpft für die Waffen-SS an der Ostfront. Er wird 1947 zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Bild: Archiv für Zeitgeschichte
Prozess in Bern wegen der Verbreitung der gefälschten «Protokolle der Weisen von Zion»: Ulrich Fleischhauer, links, Leiter des antisemitischen Erfurter «Weltdienst» mit seiner Frau. Daneben Silvio Schnell, der Pressechef der Nationalen Front Bern. Rechts Alfred Zander, Mitglied der Nationalen Front und Antisemit. Zander kommt aus Brunnen SZ, studierte in Zürich...
... Anglistik und Pädagogik. Erst macht Zander bei der Nationalen Front mit (hier bei einer Kundgebung vor dem Bundeshaus in Bern 1937). 1938 gründete er mit Hans Oelner den Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung und kommt 1939 für eineinhalb Jahre ins Gefängnis. Zander geht 1941 nach Deutschland und ist ab 1943 bei der Waffen-SS. Er stirbt 1997 in Konstanz.
Bild: Gemeinfrei
Hitler-Fan und Journalist Hans Oehler (links) im Mai 1947 mit seinem Anwalt auf dem Weg ins Zuger Gerichtsgebäude. Oehler traf den künftigen Diktator 1923 in Zürich, betätigte sich in der Nationalen Front und gründete 1938 den Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung. Er geht nach dem Krieg für zwei Jahre ins Zuchthaus.
Bild: Staatsarchiv Aargau
Natürlich sind auch die Deutschen in der Schweiz nicht untätig: hier Hakenkreuz-Fahnen und Hitlergruss beim Sportfest der Reichsdeutschen der «Deutschen Kolonie in der Schweiz» auf dem Zürcher Letzigrund 1941.
Bild: Stapo Zürich
«Die Fünfte Kolonne»: Schweizer Faschisten bis 1945
Fundraising von Adolf Hitler am 30. August 1923: die Villa Schönberg in Zürich Enge circa 1900 als Federzeichnung von Louis Saugy. Der Massenmörder besuchte auch Aarau und Schaffhausen, bevor er nach Bayern zurückkehrte.
Bild: Baugeschichtliches Archiv ZH
30'000 Franken soll Hitler in der Schweiz eingestrichen haben, was heute 190'000 Franken entspricht. Im Bild: Einblick ins Innere der Villa Schönberg anno 1898. Rudolf Hess kommt in seiner Studienzeit einmal wöchentlich zum Essen in Willes Villa.
Bild: Baugeschichtliches Archiv ZH
Hektor Ammann war von Anfang an beim Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz dabei und massgeblich für die «Eingabe der Zweihundert» im November 1940. Als man sich 1946 daran erinnert, wird er aus dem Staatsdienst entlassen. Ammann geht ab 1955 nach Deutschland, um zu lehren.
Bild: Gemeinfrei
Eduard Fueter am 10. August 1930: Der damalige Student war in jenem Jahr Mitbegründer der Neuen Front, die 1933 in der Nationalen Front aufging. Während des Krieges und danach machte er Karriere im Hochschulwesen.
Bild: ETH Bibliothek
Auch der Student Robert Tobler hob die Neue Front 1930 mit aus den Angeln und avancierte in der Folgeorganisation Nationale Front gar zum Führer. Der Zürcher sass im Gemeinderat, Kantonsrat und Nationalrat. Nach der Auflösung der Nationalen Front im Frühjahr 1940 gründete er die Eidgenössische Sammlung, die 1943 verboten wurde.
Bild: Schweizerische Landesbibliothek
Landesverrat: Die Nazi-Karriere von Max Leo Keller, hier im Juni 1948 vor dem Bundesstrafgericht in Luzern, steht für die vieler Schweizer Faschisten. Geboren 1897 in Zürich, studierte Keller in der Schweiz (ZH, BE) und Deutschland (Darmstadt) Politik und Ingenieurwesen, arbeitet ab 1918 als Elektroingenieur erst hier, dann in den USA und promoviert 1931.
Bild: Keystone
1932 wird Keller Direktor des Amtes zur Einführung neuer Industrien und betätigt sich ab 1933 als wirtschaftspolitischer Redaktor der Nationalen Front. 1938 bis 1939 hilft er bei der «Neuen Basler [Frontisten-]Zeitung» aus und ist 1940 Mitgründer der Nationalen Bewegung Schweiz NBS. Er emigriert 1941 nach Deutschland. Er wird nach dem Krieg zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Bild: Gemeinfrei
Landespropagandaleiter der Nationalen Front war von 1936 an war Benno Schaeppi. 1938 ist er Mitgründer des St. Galler Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung, wird 1939 merhmals verhaftet und emigriert nach Deutschland. Schaeppi kämpft für die Waffen-SS an der Ostfront. Er wird 1947 zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Bild: Archiv für Zeitgeschichte
Prozess in Bern wegen der Verbreitung der gefälschten «Protokolle der Weisen von Zion»: Ulrich Fleischhauer, links, Leiter des antisemitischen Erfurter «Weltdienst» mit seiner Frau. Daneben Silvio Schnell, der Pressechef der Nationalen Front Bern. Rechts Alfred Zander, Mitglied der Nationalen Front und Antisemit. Zander kommt aus Brunnen SZ, studierte in Zürich...
... Anglistik und Pädagogik. Erst macht Zander bei der Nationalen Front mit (hier bei einer Kundgebung vor dem Bundeshaus in Bern 1937). 1938 gründete er mit Hans Oelner den Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung und kommt 1939 für eineinhalb Jahre ins Gefängnis. Zander geht 1941 nach Deutschland und ist ab 1943 bei der Waffen-SS. Er stirbt 1997 in Konstanz.
Bild: Gemeinfrei
Hitler-Fan und Journalist Hans Oehler (links) im Mai 1947 mit seinem Anwalt auf dem Weg ins Zuger Gerichtsgebäude. Oehler traf den künftigen Diktator 1923 in Zürich, betätigte sich in der Nationalen Front und gründete 1938 den Bund treuer Eidgenossen nationalsozialistischer Weltanschauung. Er geht nach dem Krieg für zwei Jahre ins Zuchthaus.
Bild: Staatsarchiv Aargau
Natürlich sind auch die Deutschen in der Schweiz nicht untätig: hier Hakenkreuz-Fahnen und Hitlergruss beim Sportfest der Reichsdeutschen der «Deutschen Kolonie in der Schweiz» auf dem Zürcher Letzigrund 1941.