Vorwürfe gegen Griechenland Zurück aufs Meer statt in ein besseres Leben

AP/toko

26.9.2020

Migranten und die Türkei beschuldigen Griechenland, zu Hunderten Flüchtlinge in Booten abzuschieben.
Migranten und die Türkei beschuldigen Griechenland, zu Hunderten Flüchtlinge in Booten abzuschieben.
Santi Palacios/AP/dpa (Symbolbild)

Migranten und die Türkei beschuldigen Griechenland, zu Hunderten Flüchtlinge in Booten abzuschieben. Hilfsorganisationen fordern eine Untersuchung der Vorwürfe.

Kaum in Europa angekommen, treiben verzweifelte Flüchtlinge schon wieder verlassen in einem Schlauchboot auf dem Meer: Migranten und die Türkei erheben schwere Vorwürfe gegen Griechenland. Die griechischen Behörden hätten sie kurz nach der Ankunft auf der Insel Lesbos zusammengetrieben, in Rettungsboote gedrängt und in der Ägäis ihrem Schicksal überlassen, beklagt eine Gruppe afghanischer Flüchtlinge.

Reporter der Nachrichtenagentur AP begleiteten ein Patrouillenboot der türkischen Küstenwache, das am 12. September 37 Migranten, unter ihnen 18 Kinder, von zwei orangefarbenen Schlauchbooten aufnahm. Journalisten von zwei anderen Medien, die ebenfalls an solchen, von der türkischen Regierung organisierten Fahrten teilnahmen, beobachteten ähnliche Szenen.

«Sie haben uns unsere Telefone weggenommen und gesagt, dass uns ein Bus in das Camp bringen wird», erzählt der 22-jährige afghanische Migrant Omid Hussain Nabisada auf Türkisch. «Aber sie haben uns auf ein Schiff gebracht. Sie sind sehr schlecht mit uns umgegangen und haben uns in diesen Booten auf dem Meer zurückgelassen.»

Die Türkei, die etwa vier Millionen Flüchtlinge aufnahm, wirft Griechenland illegale Sammelabschiebungen in grossem Umfang vor – in Umgehung der Asylverfahren und als Verstoss gegen internationales Recht. Ankara beschuldigt zudem die Europäische Union, vor dieser eklatanten Verletzung der Menschenrechte die Augen zu verschliessen. Der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu sprach die Vorwürfe im August bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem deutschen Kollegen Heiko Maas (SPD) an.

Nach eigenen Angaben hat die türkische Küstenwache allein in diesem Monat mehr als 300 Migranten gerettet, die von Griechenland aus in türkische Gewässer abgeschoben worden seien. Internationale Hilfsorganisationen bezeichnen die Berichte als glaubwürdig und haben wiederholt zu Untersuchungen aufgerufen. Griechenland, das die Hauptlast des Flüchtlingsandrangs aus der Türkei trägt, weist die Vorwürfe zurück und wirft umgekehrt der türkischen Regierung vor, Migranten als Waffen zu benutzen.

Angeschwemmte Rettungswesten und Reste von Schlauchbooten: Immer wieder kommt es im Mittelmeer zu Flüchtlingstragödien.
Angeschwemmte Rettungswesten und Reste von Schlauchbooten: Immer wieder kommt es im Mittelmeer zu Flüchtlingstragödien.
Filip Singer/dpa (Archivbild)

Die Türkei hatte im März ihre Drohung wahr gemacht, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, und ihre Grenze zur EU geöffnet. In einer mutmaßlich von der Regierung organisierten Aktion machten sich Tausende auf den Weg zur griechischen Grenze, was zu chaotischen und gewaltsamen Szenen führte. Griechenland schloss seine Grenze und setzte Asylanträge für einen Monat aus.

Die griechische Küstenwache wirft ihrem türkischen Pendant vor, regelmäßig Schleuserboote mit Migranten an Bord in Richtung Griechenland zu eskortieren. Athen verweist auf das Abkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016, wonach die Türkei Menschen aufhalten muss, die heimlich nach Griechenland einreisen wollen.

3150 Migranten gerettet

Ein Sprecher der griechischen Küstenwache, Korvettenkapitän Nikolaos Kokkalas, erklärte, seine Patrouillen entdeckten immer wieder Boote mit Migranten, die illegal nach Griechenland gelangen wollten. Darunter seien viele Schlauchboote wie die von den AP-Reportern gesichteten. Die Küstenwache habe bei etwa 100 Zwischenfällen in diesem Jahr 3150 Migranten gerettet.



Die beiden Nachbarstaaten streiten schon seit Jahrzehnten um territoriale Ansprüche, und immer wieder werden Asylsuchende in den geopolitischen Konflikt verwickelt. Im Sommer verschärften sich die Spannungen wegen eines Streits um Erdgas in von beiden Seiten beanspruchten Gewässern im Mittelmeer dramatisch. Zeitweise wurde ein Krieg befürchtet. Die Spitzen der EU wollen bei einem Gipfeltreffen Anfang Oktober über mögliche Sanktionen gegen die Türkei beraten wegen einer Erkundungsmission in dem Gebiet. Ankara hat für den Fall von Strafmassnahmen damit gedroht, Flüchtlinge in die EU zu schicken.

Anhaltende Vorwürfe gegen Griechenland

Die anhaltenden Vorwürfe der Rückführung von Migranten sind der jüngste Ausdruck dieser Spannungen. Auch Human Rights Watch wirft Griechenland unter Berufung auf Interviews mit Asylsuchenden vor, Flüchtlinge gesammelt über Land- und Seegrenzen mit der Türkei abzuschieben.

Weitere Organisationen riefen Griechenland zu Untersuchungen auf. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zeigte sich im August besorgt über sich seit März häufende Berichte über «mutmassliche informelle Rückführungen zu Wasser von Menschen, die nach eigenen Angaben oder nach Angaben Dritter, an der griechischen Küste angelandet waren und anschliessend zurück aufs Meer geschleppt wurden».

Der griechische Schifffahrtsminister Giannis Plakiotakis sagte kürzlich, die griechischen Behörden hätten in diesem Jahr mehr als 10'000 Menschen von der Einreise nach Griechenland auf dem Seeweg abgehalten. Auf welche Weise dies geschah, sagte er nicht. Der ehemalige Migrationsminister Ioannis Mouzalas verlangte von seinem Nachfolger Notis Mitarachi am 21. September Informationen dazu und erklärte, das Vorgehen verstosse augenscheinlich gegen griechisches und internationales Recht.

Unter den am 12. September von Schlauchbooten geretteten afghanischen Migranten war auch die 14-jährige Sohra Alisada mit ihren Eltern und zwei Geschwistern. Die Polizei auf Lesbos habe ihnen Handys und Geld weggenommen, sie in Boote verfrachtet und zurückgelassen, erzählt sie. Ihr Vater Mohammed Resa Alisada sagte, die Polizisten hätten die Schlauchboote aufgeblasen und «uns wie Tiere hineingeworfen».

Die in Norwegen ansässige Beobachtungsstelle Aegean Boat Report dokumentierte nach eigenen Angaben seit März mindestens 50 derartige Fälle. «Sie gehen nicht freiwillig auf diese Boote. Sie werden gezwungen», sagt Tommy Olsen von der Organisation. «Normalerweise rettet man Menschen von Schlauchbooten. Man setzt sie nicht in Schlauchboote und lässt sie allein.»

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