BelarusZwischen Fortschritt und Sorge: Die Ukraine, Belarus und die EU
SDA/tpfi
6.10.2020 - 15:41
Es ist der erste «echte» Gipfel mit persönlichem Treffen statt Videokonferenz, den die EU seit Beginn der Corona-Krise mit einem Staatschef abhält. Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj schweben aber noch andere bedrohliche Themen über den Teilnehmern.
Der Konflikt im Nachbarland Belarus wird nach der eigenen blutigen Geschichte prowestlicher Proteste auch in Kiew genau beobachtet. Und beim eingeschlagenen Westkurs müssen Ukraine, EU und Nato vorsichtig gegenüber Russland sein. Mehr Annäherung ist jedoch nur mit mehr Reformen zu haben. Die aktuelle Lage im Überblick:
Warum will Kiew eine stärkere West-Ausrichtung?
Schon länger strebt die riesige Ex-Sowjetrepublik aussenpolitisch nach Westen. Vor allem junge und liberale Ukrainer befürworten das. Doch Anhänger Russlands und der Kreml lehnen diese Orientierung strikt ab. Seit 2014 kämpfen Regierungseinheiten im Bergbaurevier Donbass gegen von Moskau unterstützte Separatisten. Laut UN-Schätzungen starben mehr als 13 000 Menschen. Russland besetzte nach einem prowestlichen Regierungssturz die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Krim.
Die humanitäre Lage in den russisch kontrollierten Gebieten habe sich jüngst zugespitzt, berichten EU-Diplomaten besorgt: «Wir möchten von Herrn Selenskyj wissen, wie er Situation vor Ort sieht.» Es gebe Bericht, nach denen für viele Menschen Gas, Strom und Wasser knapp würden. Hilfsorganisationen müssten ungehinderten Zugang bekommen.
Ein 2015 unter deutsch-französischer Vermittlung vereinbarter Friedensplan – das Minsker Abkommen – ist nur ansatzweise umgesetzt. Doch der 2019 gewählte Selenskyj hält am Westkurs seines Vorgängers Petro Poroschenko fest, mit Mitgliedschaft in EU und Nato. Zugleich trat er mit dem Anspruch an, den Krieg im Donbass zu beenden.
Was hat die aktuelle Lage in Belarus mit der Ukraine zu tun?
Bei den «Euromaidan»-Protesten 2013/2014 waren Sicherheitskräfte in Kiew massiv gegen Demonstranten vorgegangen. Es gab Dutzende Tote. Auslöser war der Beschluss des russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Schon in der «Orangen Revolution» nach gefälschten Wahlen 2004 wurde eine Ost-West-Konfrontation mit Mühe verhindert.
Die Lage im benachbarten Belarus erinnert so manchen an die damaligen Vorgänge. Das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko soll bei der Wahl am 9. August Ergebnisse manipuliert haben. – die EU sah weder eine freie noch eine faire Abstimmung. Bei den Protesten in Minsk und anderen Städten gab es Tausende Festnahmen und auch schon Tote.
Man werde mit Selenskyj «über die Situation diskutieren», hiess es in Brüssel. Die EU will eine «zweite Ukraine» im Sinne eines langen Konflikts unbedingt verhindern. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja wurde am Dienstag in Berlin erwartet.
Wie ist der Stand in den Beziehungen der Ukraine zur EU?
Offiziell stehen in Brüssel die nächsten Schritte zur Umsetzung des Assoziierungsabkommens und Vertiefung des Freihandels auf der Agenda. Seit dem Inkrafttreten im Januar 2016 habe es einen Zuwachs des bilateralen Handels um 65 Prozent gegeben, so die EU-Seite. «Wegen Corona haben wir derzeit nicht den positiven Effekt, den wir erhofft haben.» Über Wirtschaftskontakte und Handelsvorteile versucht die EU, befreundete Nichtmitglieder an sich heranzuführen, Borrell hatte die Ukraine kürzlich besucht. Noch ist das Land eines der ärmsten in Europa, 2015 konnte ein Staatsbankrott nur knapp abgewendet werden.
Seit 2014 flossen 15 Milliarden Euro an EU-Hilfen in die Ukraine. Sie bleibt das wichtigste Transitland für Gaslieferungen aus Russland in die EU – zumindest solange die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb ist. Mit den Einnahmen aus der Durchleitung verdient Kiew viel Geld. Wirtschaft, Handel und Industrie in dem Land sollen aus Sicht externer Geber aber weiter liberalisiert werden.
Wie kommen die Reformen in der Ukraine voran?
Nach Vorstellungen der EU muss die Führung in Kiew Verwaltung und Justiz noch mehr modernisieren. Die Ukraine soll rechtsstaatliche Verfahren und eine effektivere Korruptionsbekämpfung sicherstellen – Bedingungen, welche die EU auch anderen assoziierten Länder stellt. Die von Kiew anvisierten Beitrittsverhandlungen erfordern die Umsetzung einer besonders langen Liste an Kriterien. Dies ist ein weiter Weg. Es gebe zwar Fortschritte, so Brüssel. Aber: «Mehr Anstrengungen sind nötig.» Dies zielt vor allem auf die Justiz im Land. Doch auch die Medienvielfalt lasse noch zu wünschen übrig.
Der frühere TV-Komiker Selenskyj steht aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise und des ausbleibenden Friedens innenpolitisch immer stärker unter Druck. Für Kompromisse mit Moskau gibt es im Parlament keine Mehrheit. Selbst in der eigenen Partei des Präsidenten wird die im Friedensplan vereinbarte Autonomie der russischsprachigen abtrünnigen Gebiete einschliesslich Verfassungsänderung abgelehnt.
Welche besondere Rolle spielen Deutschland und Frankreich?
Die beiden grossen EU-Länder haben eine zentrale Vermittlerrolle zwischen Russland und der Ukraine. Auch bilateral gibt es Kontakte: Anfang September berieten Kanzlerin Angela Merkel und Selenskyj über mögliche Fortschritte einer Friedenslösung. Der Ukraine-Konflikt ist einer der wenigen, bei dem Deutschland eine führende internationale Mittlerposition einnimmt. Viele Vereinbarungen eines früheren Gipfels mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Russlands Staatschef Wladimir Putin wurden aber nicht oder nur schleppend umgesetzt.