UN-Flüchtlingshilfe «Die Nachbarländer sind jetzt schon überfordert»

Von Alex Rudolf

20.8.2021

Anja Klug, bei der UNHCR für die Schweiz und Liechtenstein verantwortlich, appelliert an die internationale Gemeinschaft: Besonders Pakistan und der Iran benötigen Unterstützung.
Anja Klug, bei der UNHCR für die Schweiz und Liechtenstein verantwortlich, appelliert an die internationale Gemeinschaft: Besonders Pakistan und der Iran benötigen Unterstützung.
zvg

Obwohl die grosse Flüchtlingswelle derzeit ausbleibt, hat das UNHCR alle Hände voll zu tun. Anja Klug, Vertreterin für die Schweiz und Liechtenstein, über Binnenflüchtlinge und den langen Weg in die Schweiz.

Von Alex Rudolf

20.8.2021

Frau Klug, vorerst bleiben die grossen Flüchtlingswellen aus Afghanistan aus. Wann rechnen Sie damit, dass mehr Menschen das Land verlassen?

Wir halten es für verfrüht, jetzt schon über grosse Flüchtlingswellen zu spekulieren. Zum jetzigen Zeitpunkt handelt es sich noch um eine Inland-Krise in Afghanistan. Zwar verlassen seit Jahren konstant Menschen das Land. Diese Bewegungen haben zwar leicht zugenommen, aber man kann nicht von einer Flüchtlingswelle sprechen.

Wie bereiten Sie sich vor?

Momentan ändert sich die Situation stündlich. Wir beobachten die Situation und bereiten uns in alle Richtungen vor. Unser Fokus liegt derzeit darauf, die Menschen im Inland zu versorgen, wo es tatsächlich zu Fluchtbewegungen kam. Mehr als eine halbe Million Menschen wurden aus ihrer Heimat in andere Landesteile vertrieben.

Wie erreichen Sie diese Menschen?

Wir sind Teil einer mehrere UN-Organisationen umfassenden Operation für Binnenvertriebene, welche die Menschen mit Nahrung und ärztlichen Leistungen versorgt. Da Afghan*innen auf eine jahrzehntelange Fluchtgeschichte zurückblicken, sind wir ausserdem auch in den angrenzenden Ländern mit Büros vertreten. Dort können die Flüchtlinge, die kamen, versorgt werden.

Dort wird auch entschieden, wohin die Flüchtenden anschliessend gebracht werden. Wie geht man da vor?

Dabei ist es ganz wichtig, dass wir zwischen der Situation in Afghanistan und in den Nachbarländern unterscheiden. UNHCR hat keine Möglichkeiten, Afghan*innen aus dem Land zu bringen. Hier liegen die Grenzen unseres Mandats. Wir versorgen dort lediglich die Binnenvertriebenen mit humanitärer Hilfe. Überschreiten Afghan*innen aber die Grenze, gelten sie als Flüchtlinge und fallen unter unser Mandat. Gelangen sie also in den Iran oder nach Pakistan, wird dort festgestellt, ob es sich um besonders vulnerable Flüchtlinge handelt oder nicht. Also solche, die nicht im angrenzenden Land bleiben können. Diese werden für Resettlement-Programme ausgewählt, können also in Länder gebracht werden, die Plätze anbieten.

UNHCR, die UN Flüchtlingsorganisation

Im vergangenen Jahr feierte die UNHCR ihr 70-jähriges Bestehen. Als Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen nimmt sich die Organisation dem Schutz von Flüchtenden an. Sie gilt als Hüterin der Genfer Flüchtlingskonvention, deren Einhaltung sie weltweit kontrolliert. Finanziert wird die UNHCR von Spenden von Staaten oder Staatenbünden. Anja Klug ist seit 2015 UNHCR-Vertreterin für die Schweiz und für Liechtenstein.

Wer gilt als vulnerable Person?

Es geht um die Frage, wie gefährdet jemand ist. Kann die Person überhaupt im Nachbarland Schutz finden? Gibt es andere Faktoren, die eine organisierte Weiterwanderung notwendig machen? Eine Gruppe besonders vulnerabler Personen sind beispielsweise alleinstehende Frauen, die in besagten Nachbarländern nicht die Möglichkeit haben, sich zu versorgen. Auch stark traumatisierte Personen, die im Nachbarland nicht ausreichend versorgt werden, fallen in diese Kategorie – oder auch medizinische Notfälle.

Wer Kontakte in die Schweiz hat, wird nicht bevorzugt hierhergebracht?

Wir entscheiden nach rein humanitären Kriterien, wer ins Resettlement-Programm aufgenommen wird. Bei der Frage, welchen Staat wir um Aufnahme bitten, berücksichtigen wir jedoch, wo es Familienangehörige gibt und nach Möglichkeit auch andere Verbindungen.



Warum sind solche Resettlement-Plätze so wichtig?

Solche Krisen, wie wir sie gerade sehen, treffen alle Menschen – aber die Frauen und Kinder am schwersten. Zu flüchten, ist oftmals gefährlich und die Männer hinterlassen ihre Familien in relativer Sicherheit entweder im Land oder im Nachbarland. Genau deswegen ist es zentral, dass die Staaten Resettlement-Plätze zur Verfügung stellen, damit auch schwache Menschen die Möglichkeit haben, zu flüchten.

Flucht vor den Taliban: Menschen aus Afghanistan überqueren am 16. August 2021 die Grenze zum Iran. 
Flucht vor den Taliban: Menschen aus Afghanistan überqueren am 16. August 2021 die Grenze zum Iran. 
Bild: Keystone

Die Schweiz bietet rund 800 solcher Resettlement-Plätze an, rund 230 entfallen auf die evakuierten Familien von Angestellten des Bundes. Ist das genug?

Jährlich stellen wir den Resettlement-Bedarf weltweit zusammen. Von den global rund 24 Millionen Flüchtlingen haben, basierend auf unseren Annahmen, weniger als 10 Prozent einen Resettlement-Bedarf. Momentan sind dies genau 1'473'156 Personen. Flüchtlinge aus Afghanistan gehören zu den am stärksten bedürftigen Gruppen – es sind rund 100'000 Personen betroffen. Diese Menschen befinden sich mehrheitlich in den Nachbarländern Afghanistans, insbesondere in Pakistan und Iran. Dann wenden wir uns an die Staaten und stellen diesen Bedarf vor. Es gibt aber keine verpflichtenden Quoten, alles ist freiwillig. Wir sind für jeden Platz dankbar. Das weltweite Angebot deckt den Bedarf aber bei Weitem nicht ab. Daher würden wir uns sehr freuen, wenn die Schweiz ihre Quote erhöht. Wir sind auf Länder wie die Schweiz angewiesen.

Der Auftritt von Bundesrätin Karin Keller-Sutter erhielt Kritik besonders von linker Seite. Es werde zu wenig unternommen. Was sagen Sie dazu?

UNHCR evakuiert keine Menschen aus den Herkunftsländern. Dies ist in der Diskussion wohl falsch dargestellt worden. Tatsächlich sehen wir derzeit keine Massenflucht in die Nachbarländer, aber beobachten, dass die Nachbarländer auch so überfordert sind. Pakistan hat bereits rund 1,5 Millionen afghanische Flüchtlinge und der Iran rund 780'000. Wir appellieren, diese zu unterstützen. Es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft anerkennt, dass die Nachbarländer am direktesten betroffen sind und daher Unterstützung benötigen, Unterstützung in Form von Soforthilfe, aber auch mit der Aufnahme von Personen.