Aufnahme von Kriegsverletzten Wie die ukrainische Botschaft den Bund umstimmte

Von Gil Bieler und Stefan Michel

22.7.2022

Überführung in die Schweiz kommt nicht infrage: Ein verletzter ukrainischer Soldat wird in Popasna in der Region Luhansk gepflegt (Archivbild).
Überführung in die Schweiz kommt nicht infrage: Ein verletzter ukrainischer Soldat wird in Popasna in der Region Luhansk gepflegt (Archivbild).
Bild: EPA

Die Schweiz nimmt nun doch Kriegsverletzte aus der Ukraine auf.  Nötig war dafür eine intensive Debatte in den Schweizer Medien – und eine reaktionsschnelle ukrainische Botschaft in Bern.

Von Gil Bieler und Stefan Michel

22.7.2022

Ein kleiner Shitstorm – und schon kippt das Eidgenössische Aussendepartement (EDA) um, könnte man angesichts der Debatte um die ukrainischen Kriegsverletzten meinen. Tatsächlich braucht es auch die passende Reaktion Kiews.

Am Montag haben Tamedia-Zeitungen publik gemacht, dass das EDA die Aufnahme von Kriegsverletzten aus der Ukraine abgelehnt hat, nachdem die Nato sie im Mai darum gebeten hatte. Die Argumentation des Bundes: Die Schweiz würde ihre Neutralität verletzen, wenn hierzulande gepflegte Personen an die Front zurückkehrten. Und weil in der Ukraine auch viele Zivilist*innen zur Waffe greifen, sei die Unterscheidung zwischen Kombattant*innen und Zivilpersonen nicht möglich.

Damit nimmt eine Debatte ihren Lauf, welche selbst die NZZ als Shitstorm bezeichnet. Neben mehreren Parteipräsidenten kritisieren auch Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss und Alt-Bundesrat Didier Burkhalter die Haltung des EDA deutlich.

Gepflegte dürfen nicht zurück an die Front

Tatsächlich verpflichtet das Völkerrecht neutrale Staaten, welche Kriegsverletzte pflegen, dafür zu sorgen, dass diese «nicht mehr an Kriegshandlungen teilnehmen können».

Der Wortlaut der Genfer Konvention:

  • «Die mit Zustimmung der lokalen Behörde von einem Sanitätsluftfahrzeug auf neu­tralem Gebiet abgesetzten Verwundeten und Kranken müssen vom neutralen Staat, wenn zwischen ihm und den am Konflikt beteiligten Parteien keine gegenteilige Vereinbarung getroffen wurde, so bewacht werden, dass sie, wenn es das Völker­recht erfordert, nicht mehr an Kriegshandlungen teilnehmen können.»

Helen Keller, Professorin am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Universität Zürich, erklärt blue News: «Einerseits nimmt das EDA eine zulässige Auslegung der Genfer Konventionen und der Haager Konventionen vor, die auch der Praxis seit dem Zweiten Weltkrieg entspreche. Andererseits gibt das Völkerrecht neutralen Staaten einen gewissen Handlungsspielraum, den das EDA nicht sehen wollte oder bewusst ausgeblendet hat.»

Kehrtwende des EDA nach neuem Gesuch Kiews

Offensichtlich hat die ukrainische Botschaft die Diskussion in den Schweizer Medien verfolgt. Am 19. Juli trifft ein Gesuch von ihr um Aufnahme verletzter Zivilpersonen beim EDA ein. Einen Tag später präzisiert die Vertretung Kiews in Bern ihr Anliegen und ersucht um Aufnahme von 155 Kindern, die intensive medizinische Pflege brauchten. 

Diese beiden Anfragen habe das EDA positiv bewertet, teilt ein Departementssprecher auf Anfrage von blue News mit. Die neue Anfrage der ukrainischen Botschaft hätte sich vom Gesuch unterschieden, welches das «Euro-Atlantic Disaster Response Coordination Centre» der Nato im Mai an die Schweiz gerichtet hatte.

Darin sei nicht klar gewesen, ob die Patienten Militär- oder Zivilpersonen gewesen wären. Das EDA erinnert dabei an die Pflicht der Schweiz, Gesundgepflegte nicht den Krieg zurückkehren zu lassen. Dieses Problem stellt sich bei verletzten Kindern offenbar nicht.

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