Erweiterte Zertifikatspflicht Zieht der Bundesrat heute die Schrauben doch wieder an?

Von Gil Bieler

8.9.2021

Gesundheitsminister Alain Berset soll heute im Bundesrat auf eine Ausdehnung der Covid-Zertifikatspflicht drängen.
Gesundheitsminister Alain Berset soll heute im Bundesrat auf eine Ausdehnung der Covid-Zertifikatspflicht drängen.
Bild: Keystone/Anthony Anex

Im zweiten Anlauf könnte der Bundesrat heute eine Ausdehnung der Covid-Zertifikatspflicht beschliessen – zu prekär ist die Situation in den Spitälern. Wie auch immer der Entscheid ausfällt, Kritik ist programmiert.

Von Gil Bieler

8.9.2021

Noch vergangene Woche wollte der Bundesrat von einer Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht nichts wissen. Am heutigen Mittwoch scheint er sich nun doch zu diesem Schritt durchzuringen: In Innenräume von Restaurants und Bars, ins Fitnesscenter, Hallenbad, Kino und Museum soll nur noch dürfen, wer nachweislich geimpft, genesen oder negativ getestet ist. Und zwar bereits ab nächstem Montag.

Gesundheitsminister Alain Berset (SP) habe einen entsprechenden Vorschlag am Dienstag seinen Bundesratskolleg*innen am Dienstag unterbreitet. Darüber berichteten sowohl der «Blick» als auch die NZZ.

Wer sich um die Zertifikatspflicht drücken oder sein Zertifikat fälschen sollte, soll mit einer Ordnungsbusse von 100 Franken bestraft werden können, schreibt die NZZ.

Und die Chancen, dass die Zertifikatspflicht ausgedehnt werde, scheinen intakt zu sein: So sei einzig von den SVP-Bundesräten Guy Parmelin und Ueli Maurer Widerstand zu erwarten, heisst es beim «Blick».

Zum Umdenken geführt habe die angespannte Situation in den Spitälern. Landesweit sind aktuell 84 Prozent der zertifizierten Intensivbetten belegt. Für Covid-Patienten werden 42 Prozent der Betten benötigt, wie Andreas Stettbacher, Delegierter des Bundesrates für den Koordinierten Sanitätsdienst, am Dienstag vor den Medien sagte.

Eines ist sicher: Allen kann es der Bundesrat gar nicht recht machen. Denn die Meinungen gehen in der Frage der Zertifikatspflicht weit auseinander.

Politik gespalten

Von den politischen Parteien wehrt sich die SVP am lautesten gegen eine Ausweitung. Diese komme einem Impfzwang gleich und würde die Gastronomie schwer treffen. Zumal sei nicht erwiesen, dass sich Infektionen in jenen Bereichen ereigneten, wo neu eine Zertifikatspflicht gelten solle, schreibt die Partei in einem Communiqué. Nach Ansicht der SVP würde es reichen, Kontrollen und Massnahmen an den Grenzen einzuführen – namentlich für Reiserückkehrer*innen.

Die FDP dagegen befürwortet eine erweiterte Zertifikatspflicht: Es müssten aber klare Bedingungen – etwa zur Dauer und den Kriterien der Aufhebung – gelten, und das Ziel müsse sein, durch diesen Schritt noch drastischere Einschränkungen für das öffentliche Leben zu verhindern. Und: «Dort, wo der Einsatz des Zertifikats ausgeweitet wird, sollen im Gegenzug die übrigen Einschränkungen (Maskenpflicht, Kapazitätsbeschränkungen, Abstände etc.) entfallen», schreibt die Partei.

Auch aus dem linken politischen Lager gibt es Zustimmung: «Wir befürworten die Ausweitung der Zertifikatspflicht, wenn damit Schliessungen verhindert werden», teilte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer auf Twitter mit. Es brauche aber gleichzeitig auch mehr Massnahmen an den Schulen, um Kinder zu schützen, sowie zusätzliche niederschwellige Impfangebote.

Wirtschaft dagegen

In der Gastronomie gibt es grosse Bedenken. In einer Umfrage des Verbands GastroSuisse gaben über die Hälfte der Restaurantbetreiber*innen an, dass sie Umsatzeinbussen von mindestens 30 Prozent befürchten.

Wenig überraschend ist man bei GastroSuisse daher gegen eine Ausdehnung der Zertifikatspflicht, wie Verbandspräsident Casimir Platzer auf Anfrage von «blue News» schreibt. «Angesichts der Tatsache, dass etwa 45 Prozent der Bevölkerung noch nicht geimpft sind, wird dies natürlich das Potenzial unserer Kundschaft stark verringern.» Gerade in ländlichen Gebieten, wo die Impfrate tiefer sei als in den Städten, seien Einbussen und Konflikte mit Kund*innen zu erwarten. Die drohenden Umsatzeinbussen kämen zudem «in einem Kontext, in dem die Branche bereits stark unter früheren Lockdowns und den immer noch bestehenden Kapazitätsbeschränkungen gelitten hat».

Ausserdem, so Platzer, sei es nicht erwiesen, dass sich in Restaurants und Bars viele Infektionen ereigneten. Als störend empfindet er weiter, dass der Bundesrat mit diesem Schritt offiziell die Zahl der Infektionen senken möchte, aber eigentlich ein ganz anderes Ziel verfolge: nämlich die Impfquote zu erhöhen.

Casimir Platzer, Präsident von GastroSuisse, befürchtet gerade für Wirte in ländlichen Gebieten Nachteile durch eine ausgedehnte Zertifikatspflicht.
Casimir Platzer, Präsident von GastroSuisse, befürchtet gerade für Wirte in ländlichen Gebieten Nachteile durch eine ausgedehnte Zertifikatspflicht.
Bild: Keystone/Anthony Anex

Auch beim Verband der Museen der Schweiz gibt es starke Vorbehalte: Ein Museumsbesuch sollte auch weiterhin ohne Zertifikat möglich sein, wenn weiterhin «mit den bereits gut bewährten Schutzkonzepten» gearbeitet werde, teilt der Verband mit. Museen müssten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sein, heisst es weiter. «Einen Teil des Publikums auszuschliessen und beispielsweise den Museumsbesuch von Schulklassen mit höheren Hürden zu belegen, widerspräche ihrem Grundauftrag.»

Taskforce rechnet vor

Die wissenschaftliche Covid-Taskforce, die den Bundesrat in der Pandemie berät, hat – wie dies im Voraus üblich ist – noch keine offizielle Stellungnahme zum Thema abgegeben. Jedoch sagte Wirtschaftsexperte Marius Brülhart, der dem Gremium angehört, am Dienstag vor den Bundeshausmedien: Auch wirtschaftlich müsse man eine Abwägung vornehmen. So gebe es ein Lager von Personen, die von einer erweiterten Zertifikatspflicht kaum betroffen seien. Nämlich jene, die geimpft, genesen oder unter 16 Jahre alt seien. Und dann gebe es jenes Lager, das dadurch Nachteile erfahre – also Ungeimpfte.

Und das Verhältnis sei eindeutig: Für drei Viertel der Bevölkerung würde sich durch eine Ausweitung der Zertifikatspflicht nichts ändern. Sie würden sogar von einer zusätzlichen Absicherung profitieren.

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Kantone dafür

Da der Bundesrat Pläne zu einer erweiterten Zertifikatspflicht bereits im August in die Vernehmlassung geschickt hat, ist auch die Position der Kantone bereits bekannt. Die kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren befürworten diesen Schritt mehrheitlich, wie Lukas Engelberger, Präsident der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), sagte. «Das Covid-Zertifikat ist eine Erfolgsgeschichte», meinte der Basler Regierungsrat, und die Mehrheit in der GDK sei der Ansicht, «dass dieser Schritt der richtige Weg ist».

Denn: Alle anderen möglichen Massnahmen wären laut Engelberger einschneidender und auch weniger gerecht, da auch Geimpfte unter den Massnahmen zu leiden hätten.

Bundesrat am Drücker

Wie der Bundesrat am Ende entscheidet, wird sich heute zeigen. Und zumindest GastroSuisse-Präsident Casimir Platzer hofft, dass die Landesregierung doch noch anders als erwartet handelt und auf eine Verschärfung der Massnahmen verzichtet.

Er warte «in aller Ruhe auf die Entscheidung», teilt Platzer auf Anfrage mit. «Ich bin ein Bergler aus Kandersteg und werde mich nicht stressen lassen.»