ParadigmenwechselBundesrat soll eigene Sanktionen verhängen können
gg, sda
3.5.2022 - 17:12
Eine Nationalratskommission rüttelt am Schweizer Embargogesetz und fordert: Der Bundesrat soll künftig nicht nur Sanktionen etwa von EU oder UNO übernehmen können.
Keystone-SDA, gg, sda
03.05.2022, 17:12
SDA/gbi
Im Verlauf des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist der Bundesrat vermehrt unter öffentlichen Druck geraten. Die Schweiz solle sämtliche Sanktionen der EU gegenüber Russland und Belarus übernehmen. Dazu gehören auch sogenannte thematische Sanktionen, welche die Schweiz bisher nicht übernommen hat.
Das führt nun zu einem Umdenken in Bern: Der Bundesrat soll selber Sanktionen ergreifen können – und zwar nicht nur gegen Staaten, sondern auch gegen Einzelpersonen und Unternehmen – etwa, wenn diese Menschenrechte verletzen. Dazu will die zuständige Nationalratskommission den Bundesrat ermächtigen, was einem Paradigmenwechsel gleichkäme.
Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) stimmte einer entsprechenden Revision des Embargogesetzes zu, wie die Parlamentsdienste am Dienstag mitteilten. Der Entscheid fiel demnach mit 18 zu 6 Stimmen.
Wirtschaftsminister Guy Parmelin und seine Experten verwiesen in den vergangenen Wochen mehrmals darauf, dass die Folgen der Übernahme thematischer Sanktionen genau geprüft werden müssten. Vor bald einem Jahr hatte der damalige Bundespräsident betont, dass dies «eine grundsätzliche Abkehr von der Schweizer Neutralitätspolitik» wäre.
Die APK-N hatte die Revision der Schweizer Sanktionspolitik im Sommer 2021 sistiert, weil sie die Schlussfolgerungen der Koordinationsgruppe des Bundesrats abwarten wollte. Diese werden voraussichtlich im Sommer vorliegen.
Streit um Auslegung der Neutralität
Nun macht die Nationalratskommission doch früher als geplant Nägel mit Köpfen. Sie will den Bundesrat künftig ermächtigen, eigenständig Sanktionen zu ergreifen und sie nicht nur gegen Staaten, sondern auch gegen Einzelpersonen und Unternehmen anzuwenden. Sanktionen dieser Art werden länderübergreifend angeordnet und können sich beispielsweise auf Chemiewaffen oder die Verletzung von Menschenrechten beziehen.
Konkret schlägt die Kommission vor, dass der Bundesrat Zwangsmassnahmen gegen Personen ergreifen darf, die sich an Verletzungen des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte oder an anderen Gräueltaten beteiligen. Dieser Antrag fand mit 14 zu 7 Stimmen bei 3 Enthaltungen eine Mehrheit. Der Ständerat hatte denselben Antrag im vergangenen Sommer – vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine – deutlich abgelehnt.
Die Mehrheit der Nationalratskommission unterstützt eine offensivere Schweizer Sanktionspolitik, da diese in ihren Augen gleichzeitig die Wahrung der Neutralität weiter ermöglicht, wie es in der Mitteilung heisst. Aus Sicht der Minderheit würde das Schweizer Neutralitätsgebot dagegen missachtet, wenn dem Bundesrat ermöglicht würde, die Sanktionen Dritter auf neue Akteure seiner Wahl auszuweiten.
Gestützt auf das Embargogesetz werden heute Sanktionen der UNO, der EU oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) durchgesetzt. Die so ergriffenen Massnahmen sind auf vier Jahre beschränkt und können einmal verlängert werden. Massnahmen, die darüber hinausgehen, stützt der Bundesrat heute auf die Bundesverfassung ab.
Politikerinnen und Politiker im Visier
Die Kommission nimmt aber auch einzelne Politikerinnen und Politiker ins Visier. Im Gleichklang mit den Beschlüssen zum Embargogesetz hielt die Kommission mit 13 zu 10 Stimmen daran fest, einer parlamentarischen Initiative von Fabian Molina (SP/ZH) Folge zu geben. Molina verlangt Sanktionen gegen hochrangige Politikerinnen und Politiker, wenn diese schwere Menschenrechtsverbrechen begangen haben.
Die Schwesterkommission des Ständerats lehnte die Initiative bisher ab und wendete ein, dass eigenständige Sanktionsmassnahmen weniger wirksam seien und deutlich mehr Ressourcen in Anspruch nehmen würden als ein international abgestimmtes Vorgehen. Damit die Initiative umgesetzt werden kann, müssen ihr beide Räte zustimmen.
Mit einer mit 15 zu 10 Stimmen verabschiedeten Motion fordert die Nationalratskommission vom Bundesrat schliesslich «eine kohärente, umfassende und eigenständige Sanktionspolitik» und damit eine aktivere Rolle. Ihr genügt es nicht, wenn die Schweiz wie bisher die EU-Sanktionen gegen Russland nachvollzieht.
Folgen im Inland im Auge
Nach Auffassung der APK-N soll der Bundesrat eigene Sanktionen vorschlagen und deren Wirksamkeit beurteilen. Dazu würde auch gehören, dass die Landesregierung prüft, ob Sanktionen international koordiniert werden müssen, ob die Schweiz eigenständig handeln kann oder ob sie der Staatengemeinschaft Sanktionen vorschlagen soll.
Die APK-N denkt aber auch an Folgen von Sanktionen im Inland. Sie will Vorschläge vom Bundesrat zur Frage, wie allfällige negative Auswirkungen der Sanktionspolitik oder Folgen des Krieges für die Bevölkerung ausgeglichen werden können. Die Kommission fällte den Entscheid im Zug einer Lagebeurteilung zum Krieg in der Ukraine.