Gerichtsurteil Frau muss Schweiz nach 20 Jahren verlassen – oder nun doch nicht?

Von Jennifer Furer

7.9.2020

Gilt eine psychische Störung als Grund, jemanden nicht des Landes zu verweisen?
Gilt eine psychische Störung als Grund, jemanden nicht des Landes zu verweisen?
Getty Images

Eine Frau aus Brasilien soll die Schweiz nach 20 Jahren verlassen. Obwohl das Urteil bereits rechtskräftig ist, soll es erneut geprüft werden. Grund: Die Frau leidet an einer psychischen Störung.

Seit 20 Jahren befindet sich eine 57-jährige Brasilianerin in der Schweiz. Nun soll sie diese wegen der Begehung einer Katalogstraftat und des Fehlens eines Härtefalls verlassen. Mehrmals habe sie das Migrationsamt darauf hingewiesen, dass sie sich illegal in der Schweiz befindet und ausreisen müsse, heisst es in einem kürzlich gefällten schriftlichen Urteil des Zürcher Obergericht, das «Bluewin» vorliegt.

Weil die Frau dem nicht nachkam, wurde sie per Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl wegen des rechtswidrigen Aufenthalts schuldig gesprochen und zu einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu 30 Franken bestraft.

Obwohl der Strafbefehl bereits in Rechtskraft erwachsen ist, beantrage die beschuldigte Frau aus Brasilien die Aufhebung des Strafbefehls sowie eine Entschädigung und eine Genugtuung in der Höhe von 200 Franken.

Neue Beweismittel oder Tatsachen

Das Zürcher Obergericht folgte dem Antrag der Beschuldigten und hiess das sogenannte Revisionsgesuch gut. Es hob den Strafbefehl auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Staatsanwaltschaft zurück. Zudem: Auch der Landesverweis kann und soll in diesem Zuge neu evaluiert werden.

Wie kam es dazu? Gemäss der Strafprozessordnung, so hält es das Zürcher Obergericht fest, kann eine Revision trotz rechtskräftigem Urteil erfolgen, wenn neue, vor dem Entscheid eingetretene Tatsachen oder neue Beweismittel vorliegen.

Wenn also solche vorliegen und diese einen Freispruch oder eine wesentlich mildere Bestrafung der verurteilten Person herbeiführen, kann selbst ein rechtskräftiges Urteil aufgehoben werden.

Nicht urteilsfähig

Im konkreten Fall der beschuldigten Frau wurde gemäss dem Zürcher Obergericht ein neues Gutachten über den psychischen Zustand der Beschuldigten vorgelegt. In diesem wurden der Beschuldigten eine verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit und eine stark eingeschränkte Steuerungsfähigkeit attestiert.

So bestehe bei der Raumpflegerin, die durch Sozialhilfe unterstützt wird, eine Verdachtsdiagnose einer wahnhaften Störung. Dies habe es der Beschuldigten verunmöglicht, eine ausreichend bezahlte Stelle anzutreten.

Der «psychisch labile Zustand» der Frau habe ihr zudem verwehrt, ihre Interessen im ausländerrechtlichen Verfahren zu wahren, weil sie selbst gar nicht urteilsfähig sei und eine Willensbildungsfähigkeit fehle, heisst es gemäss dem Zürcher Obergericht im Gutachten.

Beschuldigte kann Situation nicht einschätzen

Der Beschuldigten sei gar nicht klar, die Tragweite des Urteils und damit des Landesverweises zu erkennen. Es sei der Gesuchstellerin bis heute in keiner Weise klar, dass sie keine Aufenthaltsbewilligung mehr besitze. Im Urteil des Zürcher Obergerichts heisst es:

«Aufgrund ihrer gutachterlich attestierten wahnhaften Störung habe die Gesuchstellerin gar nicht wissen können, dass sie nicht mehr im Besitz einer gültigen Aufenthaltsbewilligung gewesen sei.»

Demnach sei es der Frau aus Brasilien gar nicht möglich gewesen, rechtzeitig Rekurs dagegen einzureichen. Die Beschuldigte habe daher weder vorsätzlich noch fahrlässig gegen das Ausländergesetz verstossen, heisst es weiter. Die Gesuchstellerin sei aufgrund ihrer Urteilsunfähigkeit schlicht unfähig gewesen, das Unrecht ihrer Tat einzusehen.

Ball liegt bei der Staatsanwaltschaft

Im Gutachten heisst es, dass die intellektuelle Fähigkeit der Beschuldigten, eine bestimmte Situation zu verstehen und vernünftig einschätzen zu können, diskutiert werden muss. Fest stehe aber, dass die Frau bezüglich Wahrung ihrer Interessen im ausländerrechtlichen Verfahren nicht urteilsfähig ist.

Das Zürcher Obergericht folgte dem Gutachten und sprach die Beschuldigte deshalb trotz rechtskräftigem Strafbefehl frei. Nun liegt es an der Staatsanwaltschaft, zu beurteilen, ob die Frau nicht nur vom illegalen Aufenthalt in der Schweiz freigesprochen wird, sondern auch, ob der Landesverweis wegen der psychischen Störung der Frau nichtig wird.

Das Urteil des Zürcher Obergerichts ist noch nicht rechtskräftig und kann vor dem Bundesgericht angefochten werden.

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