Fragen und Antworten Das Parlament legt den Energie-Turbo ein und ritzt die Verfassung

aru

2.10.2022

Der Zuger Kantonsrat beugte sich am Donnerstag über das revidierte Energiegesetz. (Symbolbild)
Der Zuger Kantonsrat beugte sich am Donnerstag über das revidierte Energiegesetz. (Symbolbild)
Keystone/GAETAN BALLY

In gleich mehreren Vorlagen ebnet das Parlament den Weg für grünen Strom. Kritiker monieren nun, dass das zu weit geht – und die Verfassung beschneidet.

In hohem Tempo beschliesst das Parlament Massnahmen für eine nachhaltige Energieversorgung. Für die einen ist es ein Quantensprung, für die anderen gerät das Parlament «ausser Rand und Band». Das musst du dazu wissen.

Was hat das Parlament beschlossen?

Auch wenn alle von einer drohenden Mangellage im kommenden Winter sprechen, betreffen die vom Parlament beschlossenen Massnahmen vor allem die langfristige Energieversorgung. Erstens fasste das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative, wogegen die SVP voraussichtlich das Referendum ergreift. Dabei geht es darum, wie die Schweiz bis 2050 von fossilen Energieträgern wegkommen soll.

Ausserdem treten ab Samstag Vorlagen in Kraft, wonach ein Solar-Zwang für Neubauten ab einer Grundstücksfläche von 300 Quadratmetern gilt. Gross-Solaranlagen in den Bergen sollen finanzielle Unterstützung erhalten sollen. In der ebenfalls angenommenen «Lex Grengiols» wird gar der Bau von grossen Photovoltaik-Anlagen ermöglicht, wie eine etwa im Kanton Wallis geplant ist.

Auch die Wasserkraft hat in dieser Session einen grossen Schritt gemacht. Das Parlament hat beschlossen, dass die Erhöhung der Grimselstaumauer im Kanton Bern von der Planungspflicht befreit wird. Das seit über 20 Jahren blockierte Projekt wurde damit auf einen Schlag auf die Zielgeraden katapultiert. Besonders die Massnahmen in Sachen Photovoltaik und Wasserkraft riefen diverse Kritiker*innen auf den Plan.

Warum sind diese Vorhaben derart umstritten?

Das Parlament überschreite klar seine Kompetenzen, sagt der Zürcher Rechtsprofessor mit Schwerpunkt Raumplanung Alain Griffel zum «Tages-Anzeiger». Grundsätzlich fehle eine umfassende Abwägung von Interessen beim Bau von grossen Solaranlagen. Der Aspekt Naturschutz komme schlichtweg zu kurz. Das Gesetz werde unzählige neue Verfahren und Streitfälle generieren.

Man müsse sogar mit Protestcamps in den Alpen rechnen. Das Parlament lebe mit seinem derzeitigen Verhalten «Allmachtsfantasien» aus, indem es den demokratischen Prozess beschneide. «Verfassung und Recht ist dazu da, die Macht der Politik zu begrenzen», sagt Griffel. Am anderen Ende dieser Denkweise stünden Autokraten wie Putin und Lukaschenko.

Was sagen die Parteien?

Dass an der Rechtsstaatlichkeit geritzt wurde, ist man sich ein Stück weit bewusst, heisst es im Bundeshaus. Das sagt etwa Nationaltat Albert Rösti (SVP/BE). «Aber letztlich fühle ich mich als Volksvertreter verantwortlich dafür, dass es dereinst genügend Strom hat. Gestützt auf die Verfassung mache ich eine Güterabwägung, die dieses Ziel verfolgt», gibt er gegenüber SRFzu Protokoll.

«Wir haben Dringlichkeiten gesprochen, wo keine Dringlichkeit herrschte und konkrete Projekte in Bundesgesetze geschrieben, die dort nichts zu suchen haben», sagt Fraktionspräsidentin Aline Trede (Grüne/BE) ebenfalls zu SRF. Dies sei nicht zielführend. Dennoch habe man in der Solaroffensive viel mehr erreicht, als man sich dies vor einem Jahr hätte vorstellen können. Ein Nein zu diesem Gesetz würde also niemand verstehen.

Warum ist das Parlament so speditiv?

Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und der damit drohenden Mangellage wollen sich viele Parlamentarier*innen für die Zukunft rüsten. Kritiker*innen wie etwa FDP-Nationalrat Matthias Jauslin sprechen davon, dass sich das Parlament in einem Modus von Hyperaktivismus befindet.

«Dies kommt nicht gut», sagt Jauslin zu SRF. Dass die Vorlagen an der Schlussabstimmung jedoch angenommen wurden, erklärt er mit dem Sachzwang. Dieser rechtfertige das Ritzen an der Verfassung.

Was sagen Experten zum Turbo-Parlament?

Wenn es in der Schweizer Politik schnell gehen müsse, dann verfüge das Parlament über Mittel, dies zu tun, sagt der Marc Bühlmann, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bern, zu SRF. Die Schweiz verfüge über kein Verfassungsgericht, welches das Parlament zurückpfeifen könne. «Doch sind auch diese dringlichen Beschlüsse dem fakultativen Referendum unterstellt und das Volk könnte somit das letzte Wort haben.»