Bundesratsreise_VD
01.07.2021
In der Mehrzweckhalle in Le Chenit wird klar, dass das Volk seine Bundesräte vermisst hat. Doch auch die Regierenden geniessen das Bad in der Menge sichtlich.
Hast du eine Meinung zum Kauf der F-35A-Kampfjets? Oder hältst du den Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU für verantwortungslos? Egal, welche Haltung du vertrittst, der Bundesrat hätte heute Zeit aufgebracht, sie sich anzuhören. Auf seiner alljährlichen Schulreise hat das Gremium im waadtländischen Le Chenit einen Zwischenstopp eingelegt und genoss dort das Bad in der Menge.
Bundespräsident Guy Parmelin (SVP) ist für die zweitägige Reise verantwortlich und erklärt vor den Medien, er habe die Stärken des Kantons Waadt unterstreichen wollen. «Wir haben noch mehr zu bieten als Lausanne mit seiner ETH.»
In der dezent dekorierten Mehrzweckhalle, wo beim Eingang Waadtländer und Schweizer Flaggen ausgehändigt wurden, spielt eine Marschkapelle. Die maximal erlaubte Belegung von 250 Personen wird wohl nur knapp unterschritten. Das Dorf will den Bundesrat sehen, wenn er schon mal hier ist.
Nachdem der Bundesratstross die Halle betreten hat, folgen Begrüssungen, Ansprachen und Geschenkübergaben: Für Parmelin gibt es unter anderem eine Uhr. Nach dem Ende des offiziellen Teils bleibt es erst überraschend ruhig. Trauen sich die Bewohner*innen von Le Chenit etwa nicht, ihre Landesregierung anzusprechen? Oder fühlen sie sich unwohl, weil viele zum Essen, es gibt lokalen Käse mit Brot, die Maske abgenommen haben? Parmelin betont im Gespräch mit den Medien, dass man die Auflagen respektiere. «Wir wollen mit der Bevölkerung ein Glas Wein trinken, aber moderat.»
«Zeitweise gingen wir nicht mal mehr gemeinsam essen.»
Dann geht alles schnell, eine blonde Frau bricht das Eis, indem sie Parmelin eine Süssigkeit überbringt. Anschliessend trauen sich mehr und mehr Besucher*innen, die Magistraten anzusprechen. Es bildet sich eine Schlange vor Alain Berset (SP). Kaum jemand will auf ein Selfie mit dem Gesundheitsminister verzichten. Aber auch die anderen Bundesräte können sich nicht über mangelndes Selfie-Interesse beschweren.
«C’est la classe», sagt ein Mädchen, das mit Simonetta Sommaruga (SP) am Tisch sitzen darf. Bei der Frage, worüber sie denn mit der Uvek-Vorsteherin gesprochen habe, bleibt das Mädchen schwammig. «Ein wenig von allem.»
«Das vergangene Jahr brachte derart grosse Herausforderungen, dass es bemerkenswert ist, wie stabil der Bundesrat die Schweiz führen konnte.»
Sie habe Viola Amherd und Alain Berset ihren Dank für die exzellente Arbeit mitteilen wollen, sagt eine andere Dame. «Das vergangene Jahr brachte derart grosse Herausforderungen, dass es bemerkenswert ist, wie stabil der Bundesrat die Schweiz führen konnte», sagt sie.
Welchen Stellenwert hat die traditionelle Bundesratsreise für den Rat selbst? Kann man von einem Teambildungsevent sprechen? «Diese Reisen sind schon wichtig. Denn wir haben in diesem Jahr viel gearbeitet, nun soll man an einem schönen Ort zusammen sein und über andere Dinge sprechen», sagt etwa Sommaruga. «Zeitweise gingen wir nicht mal mehr gemeinsam essen», sagt Karin Keller-Suter (FDP). «Wenn man sich streitet, soll man sich anschliessend auch vertragen und friedlich zusammensitzen.»
«Hier gibt es viel guten Wein und auf den freue ich mich.»
Viola Amherd findet es wichtig, dass der Humor nicht auf der Strecke bleibt: «Wir können mal Spass haben und Witze machen. Dazu haben wir üblicherweise keine Zeit.» Ueli Maurer legt den Fokus auf die Getränke: «Hier gibt es viel guten Wein und auf den freue ich mich.»
Nach der langatmigen Pandemie ist der Bundesrat endlich wieder eine Regierung zum Anfassen. Die nächste Gelegenheit dazu haben die Einwohner*innen von Nyon. Dann wird dort nämlich ein vergleichbarer Anlass stattfinden.