Vater berichtet«Vor der Organentnahme habe ich meinen toten Sohn noch einmal gekniffen»
Von Lia Pescatore
5.5.2021
Der Nationalrat diskutiert am Mittwoch darüber, ob in der Schweiz in Zukunft jeder als potenzieller Organspender gelten soll. Heute liegt es meist in den Händen der Angehörigen, über Ja oder Nein zu entscheiden. «blue News» hat mit einem Betroffenen gesprochen.
Von Lia Pescatore
05.05.2021, 00:00
05.05.2021, 09:53
Lia Pescatore
Alles nahm seinen Lauf an einem Sonntagabend im März 2012. Andreas Hellers Sohn klagte über Kopfschmerzen, die auch am folgenden Tag noch anhielten. Er kam früher aus der Schule deswegen. Am Dienstag fühlte er seine Hände nicht mehr richtig, seine Mutter war sofort alarmiert und fuhr ihn ins Spital. Einen Tag später lag er bereits im künstlichen Koma: Ein Aneurysma hatte Blutungen im Hirnstamm ausgelöst, eine Operation blieb ohne Erfolg. Die Ärzte teilten den Eltern im Treppenhaus vor der Intensivstation mit, dass ihr Kind keine Überlebenschancen hätte. Ein Abstellen der Maschinen würde auch den Tod des Jungen bedeuten.
In einem Zug erzählt Andreas Heller die Ereignisse dieser drei Tage, als sei er froh, sie loszuwerden, entschuldigt sich gar für seine «Emotionslosigkeit». Neun Jahre liegt nun der Tod von Andreas Hellers Sohn zurück. An gewisse Eindrücke kann er sich noch ganz klar erinnern, doch die Kette der Ereignisse ist in seinem Gedächtnis teilweise gerissen, mühsam muss Heller sie im Gespräch zusammensetzen. Insbesondere was nach dieser einschneidenden Diagnose folgte, kann Heller kaum mehr ordnen. Denn mit der tödlichen Diagnose seines Sohnes war eine weitere Entscheidung zu fällen: Wie weiter mit den Organen?
Den Eltern fiel die Entscheidung relativ leicht. Es waren sie selbst, die das Thema Organspende zum ersten Mal einbrachten, als ihnen die Ausweglosigkeit der Situation klar wurde. Als Töfffahrer hatten sie sich mit dem Gedanken eines unerwarteten Todes und dessen Folgen bereits beschäftigt, nun traf es aber ihr Kind und nicht sie selbst. Auch wenn sie sich nie konkret mit ihrem Sohn über die Organspende unterhalten hätten, bestand für sie keinen Zweifel, dass dies auch in seinem Sinne gewesen sei.
Heller erzählt nicht ohne Stolz, dass sein Sohn schon in jungen Jahren davon erzählt habe, eines Tages Blut spenden zu wollen – wie sein Vater es immer noch regelmässig tut. Und als Heller einmal wegen Nierensteinen unter solchen Schmerzen litt, dass er trotz Medikamenten nicht arbeiten konnte, habe sein Sohn gesagt: «Wenn ich könnte, würde ich dir eine meiner Nieren geben.» Damals war er rund 10 Jahre alt.
Die Mehrheit entscheidet sich gegen Organspende
Willensäusserung ja, aber wie?
Heute gilt in der Schweiz die erweiterte explizite Zustimmungslösung. Diese sieht vor, dass die Angehörigen über die Organspende entscheiden sollen, falls sich der Verstorbene nicht explizit dazu geäussert hat. Die Organspende-Initiative, die im März 2019 lanciert wurde, fordert hingegen eine Einführung der engen Widerspruchslösung – wer sich zu Lebzeiten nicht gegen eine Organspende ausspricht, gilt als potenzieller Spender. Kritiker der Initiative befürchten, dass es Gegnern der Organspende durch die Annahme der Initiative erschwert würde, ihren Willen zu äussern, zum Beispiel wegen fehlender Informationen. Es sei zudem nicht bewiesen, dass eine Änderung des Modells zu einer höheren Anzahl der Spenderorgane führe. Der ehemalige Vizepräsident von Swisstransplant, Sebastiano Martinoli, sprach sich in den Medien mehrmals gegen die Initiative aus. Er befürchtet, dass die Schweizer*innen dadurch die Organspende nicht mehr als Geschenk, sondern als Zwang wahrnehmen könnten. Auch die Nationale Ethikkommission lehnt das Modell ab. Der Bundesrat hat darum als indirekter Gegenvorschlag die erweiterte Widerspruchslösung ins Spiel gebracht, bei der zwar alle als potenzielle Organspender gelten, die Angehörigen jedoch ein Mitspracherecht hätten. Die meisten europäischen Länder kennen diese Lösung. Der Nationalrat diskutiert heute als Erstrat sowohl über die Initiative als auch über den Gegenvorschlag des Bundesrats.
Nicht allen Angehörigen fällt in einer vergleichbaren Situation die Entscheidung so leicht wie den Hellers. Häufig sind es die Nächsten, welche Ja oder Nein zu einer Transplantation sagen müssen. Sie nimmt das Schweizer Gesetz in die Pflicht, falls sich der Betroffene oder die Betroffene selbst nicht explizit zum Thema geäussert hat, zum Beispiel durch einen Eintrag im Organspenderegister. Dort sind gerade mal rund 100'000 Personen eingetragen, in vielen Fällen bleibt die Entscheidung also bei den Angehörigen.
Durchschnittlich lehnten in den letzten Jahren um die 60 Prozent der Angehörigen in der Folge eine Organspende ab. Dies führt dazu, dass jedes Jahr Dutzende Menschen sterben, weil sie zu lange auf ein Spenderorgan warten müssen.
Eine Initiative will dies nun ändern. Anstatt ein grundsätzliches Nein soll bezüglich der Organspende ein grundsätzliches Ja gelten. Wer sich nicht explizit gegen eine Organspende ausspricht, ist potenzieller Spender. Für Andreas Heller ist dies ein längst überfälliger Paradigmenwechsel. Seine Meinung zur Organspende ist klar: Er ist seit dem Tod seines Sohnes als Botschafter für Swisstransplant unterwegs. Die heute geltende Zustimmungsregel habe zur Folge, dass man Organe lieber vernichte, als durch sie anderen Menschen eine zweite Chance zu ermöglichen. «Ein Ja zur Initiative ist also auch ein Ja zum Leben», findet Heller.
Kein bedingungsloses Ja zur Organspende
Aber auch er hat Vorbehalte gegenüber einem bedingungslosen Ja: «Es ist sehr wichtig, dass der Respekt gegenüber den Verstorbenen und auch gegenüber der Angehörigen gewahrt wird», sagt er. Denn auch er selbst hätte nicht bedingungslos Ja gesagt, als er am Bett seines Sohnes stand. «Wenn ich nur einen Moment das Gefühl gehabt hätte, dass mein Sohn wie Ware behandelt wird, dann hätte ich die Aktion abgebrochen», ist sich Heller sicher. Darum sei er auch dem Gegenvorschlag des Bundesrates nicht abgeneigt. «Schlussendlich müssen die Angehörigen mit der Entscheidung leben, darum sollen auch sie einbezogen werden», sagt Heller. Seine Frau und er hätten sich nach intensiven Diskussionen zum Beispiel dagegen entschieden, Teile des Auges ihres Sohnes zu spenden. Diese Entscheidung sei auch vom Koordinator der Organspende sehr verständnisvoll akzeptiert worden.
Heller hatte zudem die Möglichkeit, die ganze Zeit an der Seite seines Sohnes zu bleiben. «Ich konnte selbst auf der Maschine beobachten, wie der Hirndruck in der Nacht auf Donnerstag immer weiter stieg und so zum Tod führte, alle Reflexe beendete.» Er war auch bei den intensiven Tests dabei, die durchgeführt wurden, um den Hirntod sicher festzustellen. Erst nach Vollendung aller Tests wurde Hellers Sohn für tot erklärt, es war Donnerstag am Mittag. «Ein Restzweifel bleibt aber immer», sagt Heller, auch er habe den Sohn nochmals gekniffen, als sie ihn am folgenden Tag in den OP zur Organentnahme fuhren.
Hätten sich die Eltern gegen die Organspende entschieden, wären die Maschinen abgestellt worden – wann dies der Fall gewesen wäre, weiss Heller nicht, davon war nie die Rede. «Natürlich mache ich es dem Gott da oben schwer, ein Wunder zu bewirken, wenn ich dem Arzt erlaube, das Herz meines Sohnes zu entnehmen», sagt Heller. Aber mit dieser Entscheidung und dem Restzweifel, der bleibe, müsse er halt leben. Der Gedanke, dass die Organe seines Sohnes anderen Familien mehr Zeit mit ihrem Kind geschenkt hätten, sei zwar sehr schön. «Aber den Verlust meines Kindes macht es mir nicht wett, ich vermisse ja nicht die Organe, ich vermisse mein Kind.»