Je mehr Menschen gegen das Coronavirus geimpft sind, desto grösser ist die Chance, dass es ausgerottet wird. Herdenimmunität zu erreichen, könnte aber alles andere als einfach werden.
Von Julia Käser
09.04.2021, 10:04
09.04.2021, 10:31
Julia Käser
Herdenimmunität – ein Konzept, das seit Beginn der grössten Impfaktion in der Geschichte der Schweiz immer wieder auftaucht und Hoffnung auf Normalität macht. Gemeint ist damit nichts anderes als ein Schutz der Gemeinschaft. Heisst: Ist eine ausreichende Zahl der Bevölkerung immun gegen das Coronavirus, kann sich der Erreger schlechter ausbreiten und wird idealerweise komplett ausgerottet.
Immun ist, wer Antikörper gegen das Virus bildet – sei es durch eine überstandene Erkrankung oder eine Impfung. Eine hohe Durchimpfungsrate ist also ein Weg, um die besagte Herdenimmunität zu erreichen.
Wie gross der Anteil der immunen Bevölkerung sein muss, damit sich ein Erreger nicht weiter ausbreiten kann, ist jedoch nicht abschliessend geklärt. Einen einheitlichen Schwellenwert für Herdenimmunität gibt es nicht – es kommt unter anderem darauf an, wie ansteckend der Erreger und wie gut der Impfschutz ist.
80 Prozent müssten sich impfen lassen
Im Falle des Coronavirus hiess es anfänglich, zwei Drittel der Bevölkerung müssten immun respektive geimpft sein, um das Virus zu besiegen. Jedoch ging man zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass eine infizierte Person im Schnitt drei weitere ansteckt. Wenn also zwei von drei Personen geimpft sind, verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus drastisch, so die Überlegung.
Mit dem Aufkommen der verschiedenen Virus-Varianten hat sich das nun geändert. In der Wissenschaft werden erste Zweifel laut, ob sich das Coronavirus mittels Impfung wirklich ausrotten lässt. Ein Grund für die Skepsis: Die Mutationen sind teils ansteckender als das ursprüngliche Virus.
Bei der britischen Mutation, die in der Schweiz mittlerweile die grosse Mehrheit der Fälle ausmacht, geht man davon aus, dass sie um 50 Prozent ansteckender ist. Ein Infizierter steckt also nicht drei, sondern vier bis fünf Personen an. Damit sich die Ausbreitung bremsen lässt, müssten demnach ungefähr 80 Prozent der Personen immun sein, rechnen Wissenschaftler*innen vor.
Zum Vergleich: Der Kanton Bern etwa rechnet aktuell mit 50 Prozent Impfwilligen, wie es auf Anfrage von «blue News» heisst.
Hundertprozentiger und lebenslanger Schutz
Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) will man sich derweil nicht auf einen fixen Wert festlegen. Mehrmals aber betonte Patrick Mathys, Leiter der Sektion Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit, bereits, dass es mit den Mutationen schwieriger werde, Herdenimmunität zu erreichen.
Im Falle des Coronavirus gibt es aber noch weitere Schwierigkeiten. So ist nach wie vor unklar, ob Geimpfte das Virus trotzdem noch übertragen können. Um einen Herdenschutz zu erreichen, müssten die Geimpften die Übertragung des Virus unterbrechen, erklärt BAG-Sprecherin Masha Maria Foursova auf Anfrage. Immerhin: «Erste Erfahrungen der letzten Monate deuten darauf hin, dass die mRNA-Impfungen auch vor einer Übertragung schützen.»
Entscheidend ist weiter, wie lange die Immunität nach einer überstandenen Erkrankung oder einer Impfung anhält. Hier tappt die Wissenschaft noch weitgehend im Dunkeln – längerfristige Erfahrungen fehlen. Fest steht: Ist man nach einer Impfung nicht lange genug geschützt, wird es schwierig, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung gleichzeitig immun sind.
Ein idealer Impfstoff – um Herdenimmunität zu erreichen – müsste demnach einen hundertprozentigen und lebenslangen Schutz vor einer Infektion und einer Übertragung bieten. Darauf wiesen das BAG und die Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF) bereits im Dezember hin. Ob es gelingt, einen solchen Impfstoff zu entwickeln, sei aber völlig offen.
Schutz der gefährdeten Personen als primäres Ziel
Auch wenn das Erreichen der Herdenimmunität als Voraussetzung zur Rückkehr in die Normalität gilt, ist es deshalb nicht das primäre Ziel der Schweizer Impfstrategie, die von der EKIF zuhanden des BAG erarbeitet wurde, wie BAG-Sprecherin Foursova ausführt.
Zuerst ziele man auf die Verminderung der Krankheitslast insbesondere von schweren und tödlich verlaufenden Corona-Fällen ab. Danach folge die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Schliesslich gehe es um die Reduktion der negativen gesundheitlichen, psychischen, sozialen sowie wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie.
«Unser primäres Ziel gilt also dem Schutz der gefährdeten Personen der Schweizer Bevölkerung vor einer schweren Infektion mit dem neuen Coronavirus», fasst Foursova zusammen. Und sie versichert: Der Bund habe genug Impfstoff beschafft, um allen eine Impfung zu ermöglichen, die dies möchten.