Zum Frauenstreik Atom-Touris und Koks für Kinder: Verrücktes, das früher normal war 

Von Philipp Dahm

14.6.2019

Berliner Werbung für eine Völkerschau von 1913.
Berliner Werbung für eine Völkerschau von 1913.
Bild:  Gemeinfrei

Von Atom-Tourismus bis hin zu Kokain für zahngeplagte Kinder: Es gibt Dinge, die einst normal waren. Inzwischen schüttelt man darüber aber bloss noch den Kopf. Muss das in Zukunft genau so sein?

Früher dachte man,

dass es Kranke gesund macht, wenn man sie zur Ader lässt. Also setzte man der Säftelehre folgend Egel auf die Dahinsiechenden an, ritzte ihnen den Körper auf oder schröpfte die Geplagten.

Aderlass-Hilfe aus einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert.
Aderlass-Hilfe aus einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert.
Bild: Gemeinfrei

Heute wissen wir,

dass die Pseudowissenschaft Leiden bloss vergrössert und verlängert, wenn der Körper in Stresssituationen auch noch durch die Entnahme seines Blutes geschwächt wird.



Früher dachte man,

dass der Europäer der Gipfel der Zivilisation ist. Als der Westen seine Kolonialreiche errichtet hat, waren die fremden Völker, auf die man traf, vor allem eines: wild und minderwertig. Es war allgemeiner Konsens, dass es die Bürde des weissen Mannes («White Man's Burden») sei, den Eingeborenen in aller Welt die Zivilisation zu schenken.

Im Sommer 1925 wurde auf dem Zürcher Letzgrund ein «Negerdörfli» mit 74 Westafrikaner zru Schau gestellt. Das Bild stammt aus Rea Brändles Buch «Wildfremd, hautnah».
Im Sommer 1925 wurde auf dem Zürcher Letzgrund ein «Negerdörfli» mit 74 Westafrikaner zru Schau gestellt. Das Bild stammt aus Rea Brändles Buch «Wildfremd, hautnah».
Bild:  Rea Brändle

Ein Auswuchs dieses europäischen Sendungsbewusstseins waren seit 1870 die Völkerschauen auf dem alten Kontinent. Obwohl die Schweiz keine Kolonien hatte, war das Begaffen Andersartiger hierzulande ebenfalls sehr beliebt. Eine der Attraktionen der Landesschau 1896 in Genf war etwa das «Village noir» – dort wurden rund 200 Senegalesen einquartiert, die «mit Ausnahme der kleinen Bébés furchtbar hässlich» waren, wie lokale Zeitungen laut «NZZ» festhielten.

Im Mai 1926 sammelte die Zürcher Tiergartengesellschaft Geld für den Bau des Zoos – unter anderem mit einer Indien-Schau auf dem sechseläutenplatz.
Im Mai 1926 sammelte die Zürcher Tiergartengesellschaft Geld für den Bau des Zoos – unter anderem mit einer Indien-Schau auf dem sechseläutenplatz.
Archivbild: Zoo Zürich

Die Zoos von Basel und Zürich stellten Schwarze oder Indianer ebenso aus wie die Gemeinden Wädenswil oder Töss, weiss der «Tages-Anzeiger». 1955 hiess es auch bei den Gebrüdern Knie: «Afrika ruft, Sitten- und Völkerschau». Noch bis 1964 stellte der Nationalzirkus vermeintlich exotische Menschen aus.

Heute wissen wir,

mit Zivilisation hatte das Ganze gar nichts zu tun. Vielmehr ging es um Befriedigung eigener Sensationslust und um eine Gelegenheit, sich auf Kosten anderer überlegen zu fühlen. Und ein Geschenk war die Ankunft der Europäer auch nicht – sie bedeutete Fremdherrschaft, Ausbeutung und  tödliche Krankheiten.


Früher dachte man,

dass Opium nicht gefährlich ist. Als die Kosumenten Suchterscheinungen zeigten, wurde ein neues Alkaloid zur Behandlung eingesetzt: Kokain. Es kam auch bei so unterschiedlichen Leiden wie Augenproblemen, Heuschnupfen oder Zahnweh zum Zuge und war tatsächlich einmal eine Coca-Cola-Zutat. Zuvor hatte man versucht, Opiumabhängige mit Heroin zu behandeln.

Zahn der Zeit: Kokainbonbons für kleine Schreihälse.
Zahn der Zeit: Kokainbonbons für kleine Schreihälse.
Bild: Gemeinfrei

Heute wissen wir,

dass man niemanden mit der Nase drauf stossen muss: Wer eine Sucht mit Drogen bekämpft, macht auch den Bock zum Gärtner.


Früher dachte man,

dass Radioaktivität kein Problem darstellt. So fanden sich nicht nur zahlreiche Freiwillige, die sich bereit erklärten, den ersten Atombombentest aus ungesunder Nähe beizuwohnen. Es gab auch Spielzeug, Bausätze und Kosmetikartikel, denen Kleinstmengen von radioaktivem Material (wie Uran oder Polonium) beigegeben wurden.

Werbung für den Atomic Bomb Ring: ...
Werbung für den Atomic Bomb Ring: ...
... Der Inhalt ist vollkommen ungefährlich.
... Der Inhalt ist vollkommen ungefährlich.
Bild:  Gemeinfrei

Ein Video über «atomic tourism» in Las Vegas in den 50er und 60er Jahren.

Das Gilbert U-238 Atomic Energy Lab wurde 1951 und 1952 produziert.
Das Gilbert U-238 Atomic Energy Lab wurde 1951 und 1952 produziert.
Bild: Gemeinfrei

Zuschauer beim Atomtest 1962.

Heute wissen wir, 

dass Radioaktivität keine Fitness-Sendung von «Energy» ist, sondern eine der grössten Gefahren für unsere Spezies überhaupt.


Früher dachte man,

dass es okay sei, den eigenen Müll wild zu entsorgen. Als Müllabfuhr diente damals noch ein Gemeindekarren, der durch den Ort fuhr. «Es ist jeweils einer mit Ochse und Wagen durchs Dorf gefahren und wir konnten alles aufgeladen, was wir nicht mehr benötigten», erinnert sich Werner Utz im «Affolter Anzeiger». Der Inhalt wanderte dann in eine Müllgrube. 

Stinkt zum Himmel: Abfallentsorgung früher.
Stinkt zum Himmel: Abfallentsorgung früher.
Screenshot: Blick.ch

1937 etwa wurde Müll nur in Davos und Zürich verbrannt, im Rest des Landes türmten die Menschen Müllberge auf. Erst mit dem Wasserschutzgesetz von 1957 trat eine erste Besserung ein.

Heute wissen wir, 

wer heute seinen Kehricht illegal entsorgt, muss mit einem Besuch der Müll-Detektive rechnen.


Heute glauben wir,

dass wir viel schlauer sind als damals. Wir fragen uns: Wie waren die Menschen früher eigentlich drauf? Wie konnte man bloss meinen,  es sei normal, sein Blut zu vergiessen, sich über Schwarze zu belustigen, sich selbst zu verstrahlen oder seine Umgebung zu vermüllen?

Dabei wissen wir,

dass Frauen Männern immer noch nicht gleichgestellt sind.

Müssen wir uns morgen fragen,

warum wir gestern, als wir wir so viel schlauer waren als damals, nichts dagegen getan haben?



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