Gleichstellung Ein Jahr nach dem Frauenstreik: «Jetzt erst recht!»

sda/phi

12.6.2020

Ein Jahr nach dem Frauenstreik ziehen verschiedene Organisationen eine erste Bilanz. Der Tenor: Die Situation habe sich ungenügend verbessert. Doch es gebe auch einige Erfolge.

Für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund war der Frauenstreik 2019 ein starkes Zeichen. Die Gleichstellung komme jedoch noch viel zu langsam voran, schrieb er in einer Medienmitteilung. Einige Erfolge sieht er dennoch, etwa den Parlamentsentscheid für den Vaterschaftsurlaub und die Frauenwahl im Herbst 2019 sowie bei punktuellen Fortschritten in einzelnen Branchen und Gesamtarbeitsverträgen. Insgesamt habe sich die Situation aber ungenügend verbessert.

So seien Lohnerhöhungen in schlecht bezahlten Berufen, die typischerweise von Frauen ausgeführt würden, längst überfällig. Eine Chance sieht der SGB in der Überprüfung der Löhne auf Diskriminierungen, wie sie das revidierte Gleichstellungsgesetz ab dem 1. Juli vorschreibt.

Heute verdienen laut SGB etwa Kleinkinderzieherinnen und Spitex-
Mitarbeiterinnen nach ihrer dreijährigen Lehre zwischen 4000 und 4500 Franken, während Maler, Dachdecker und Maurer nach ebenfalls dreijähriger Lehre monatlich rund 1'000 Franken mehr erhalten.

Nationaler Frauenstreik am 14. Juni 2019 in Lausanne.
Nationaler Frauenstreik am 14. Juni 2019 in Lausanne.
Bild: Keystone

Verbesserungen gab es etwa bei der Post. «Der Frauenstreik 2019 hat bei uns wirklich etwas gebracht», so die Postangestellte und Gewerkschafterin Ingrid Kaufmann in einem Video auf der SGB-Plattform 14juni.ch. So gebe es bei neu eine zentrale Stelle, bei der Mitarbeiterinnen prüfen können, ob sie den gleichen Lohn erhalten. Im Post-Gesamtarbeitsvertrag sei verankert worden, noch bestehende Lohnungleichheit zu beseitigen. Stellen würden zudem neu mit Lohntransparenz ausgeschrieben.

Boykottaufruf gegen «All-Male-Panels»

Unterdessen riefen die Parlamentarierinnen der SP-Fraktion zu einem Boykott von «All-Male-Panels» auf. «Wir SP Frauen werden keine Informationsveranstaltung mehr besuchen, an der nicht mindestens eine Frau als Expertin oder Rednerin vorgesehen ist», erklärte Nationalrätin Nadine Masshardt (BE), Vizepräsidentin der SP-Bundeshausfraktion. Nötig seien Taten statt Worte.

Nach dem historischen Frauenstreik mit einer halben Million Teilnehmenden im vergangenen Jahr werden am diesjährigen 14. Juni coronabedingt dezentral kleinere Aktionen organisiert. Die herrschenden Missstände seien durch die Corona-Krise verstärkt und noch klarer sichtbar geworden, teilte die Deutschschweizer Koordination mit.

Was hat der Frauenstreik gebracht?

Unbezahlte und unterbezahlte Arbeit sei zum 24-Stunden-Job geworden. «Parallel zum Homeoffice machten wir wochenlang Home-Schooling und sorgten uns um die (Schwieger-)Eltern.» Personen in als «systemrelevant» erklärten Berufen wie in der Pflege hätten in 13-Stundenschichten ohne Lohnerhöhung oder Gefahrenzulage gearbeitet.

«Jetzt erst recht!»

»Die Corona-Krise hat sichtbar gemacht, dass die gefährlichen und schlecht bezahlten Tätigkeiten, die die Gesellschaft am Leben erhalten, vor allem von Frauen ausgeführt werden», sagte die Pflegefachfrau Sara Muff in einem Video, das der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) während der «violetten Woche» vor dem diesjährigen Frauenstreik auf der Plattform 14juni.ch veröffentlichte.

Das Pflegepersonal sei ganz vorne an der Front gegen Corona gestanden, zugleich habe es an Schutzmaterial gefehlt, rief Muff in Erinnerung. «Wir fordern faire Arbeitsbedingungen.» Der Applaus vom Balkon sei eine wunderschöne Geste, verändere ihren Arbeitsalltag jedoch wenig. Sara Muff ging bereits am 14. Juni 2019 mit Kolleginnen auf die Strasse, um mehr Lohn, Zeit und Respekt für den Care-Sektor zu fordern. Heute sagt sie: «Jetzt erst recht!»

Unter dem Motto «Feministisch Pausieren, Kollektiv Organisieren» ruft die Deutschschweizer Frauenstreik-Koordination die Frauen sowie Trans-, Inter- und Genderqueere Personen dazu auf, sich am kommenden Sonntag bei lokalen Aktionen von «den erschöpfenden Zuständen und Arbeiten protestreich zu erholen».

Grösste politische Aktion seit 100 Jahren

Um 15.24 Uhr hat der Aktionstag einen gemeinsamen nationalen Moment. Ab diesem Zeitpunkt, ab dem arbeitende Frauen aufgrund der Lohnunterschiede eigentlich nicht mehr entlöhnt werden, soll den Forderungen landesweit mit Lärm lautstark Ausdruck gegeben werden. Nach dem feministischen Streik im vergangenen Jahr bestehe noch keine Gleichstellung der Geschlechter, erklärte die Deutschschweizer Koordination.

Am Frauenstreik am 14. Juni des vergangenen Jahres hatten landesweit mehrere hunderttausend Frauen teilgenommen und bei Strassenprotesten gleiche Rechte im gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Leben gefordert. Laut SGB war der 14. Juni 2019 die grösste politische Aktion in der Schweiz seit dem Generalstreik von 1918.In praktisch allen Städten und vielen grösseren Gemeinden fanden Kundgebungen statt.

Ein Kollektiv von 32 Fotografinnen hat die kämpferisch-heitere Aktion nun in dem Buch «Wir – Fotografinnen am Frauen*streik» dokumentiert, das eben erschienen ist. Der 14. Juni ist ein Schlüsseldatum für die Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz. 1981 hiess das Volk den entsprechenden Verfassungsartikel gut. 1991 legten eine halbe Million Frauen die Arbeit nieder, angeführt von den Gewerkschaften.

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