Bundesanwaltschaft ermittelt wegen BetrugVerdacht auf «Unterschriften-Bschiss» bei vielen Initiativen
tafi / sda
2.9.2024 - 21:59
Kommerzielle Unternehmen sollen beim Sammeln von Unterschriften für Volksinitiativen betrogen haben. Es geht um gefälschte Unterschriften. Die Bundesanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Wahlfälschung.
Keystone-SDA, tafi / sda
02.09.2024, 21:59
SDA
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Ein Unterschriften-Skandal erschüttert die Schweiz: Die Bundesanwaltschaft ermittelt wegen Betrugsverdacht bei Unterschriftensammlungen.
Kommerzielle Unternehmen sollen tausende Daten gefälscht haben, Initiativen sind womöglich unrechtmässig zustande gekommen.
Pikant an der Angelegenheit: Ein Verbot von bezahltem Unterschriftensammeln wurde 2021 im Nationalrat abgelehnt.
Über die Vorwürfe hatten zuerst die Tamedia-Zeitungen berichtet: Die Schweizer Demokratie wird von einem Unterschriften-Bschiss erschütttert.
Personen hinter der Service-Citoyen-Initiative hätten wegen vieler ungültiger Unterschriften Verdacht geschöpft und Strafanzeige eingereicht. Die fraglichen Unterschriften habe das Unternehmen Incop gegen Geld gesammelt.
Nun ermittelt die Bundesanwaltschaft (BA) wegen Wahlfälschung. Im Rahmen der betreffenden Verfahren hätten die BA und das Bundesamt für Polizei bereits Hausdurchsuchungen und Einvernahmen durchgeführt.
«Die Verfahren laufen zurzeit gegen verschiedene natürliche Personen und gegen Unbekannt», teilte die Bundesanwaltschaft auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mit. Zum Teil seien offenbar ganze Bögen von älteren Volksbegehren abgeschrieben worden. Incop war für Keystone-SDA telefonisch zunächst nicht erreichbar.
Kein politisches Muster
Die Bundesanwaltschaft äusserte sich nicht dazu, um welche Initiativen es geht und gegen wen sich die Verfahren richten. Offenbar sind auch weitere Volksbegehren respektive kommerzielle Unterschriftensammler betroffen.
Bereits Anfang 2019 hätten sich mehrere Gemeinden wegen möglicher Betrugsfälle beim Kanton gemeldet, sagte Vincent Duvoisin, Chef der Abteilung Gemeinden und Kantone bei der Waadtländer Kantonsverwaltung, den Tamedia-Zeitungen. Daraufhin habe man die Gemeinden aufgefordert, Unregelmässigkeiten systematisch zu melden.
Ein klares politisches Muster ergab sich nach Angaben des Kantons Waadt dabei nicht. Unter dem guten Dutzend Volksbegehren, bei denen man am meisten fingierte Unterschriften festgestellt habe, seien sowohl solche aus dem rechts-konservativen Lager als auch solche mit ökologischen Anliegen – und Initiativen, die sich parteipolitisch nicht klar verorten lassen.
Bundeskanzlei ist aktiv
Zu den betroffenen Initiativen gehörten demnach die Pro-AKW-Initiative «Blackout stoppen», die Neutralitätsinitiative, die Massentierhaltungsinitiative und die Initiative für ein Importverbot für tierquälerisch erzeugte Pelzprodukte.
Eine der Strafanzeigen zum Thema stammt von der Bundeskanzlei, wie diese auf Anfrage bestätigte. Man habe die Anzeige 2022 eingereicht und seither mehrfach ergänzt. «Die Meldungen über Verdachtsfälle betreffen in unterschiedlichem Ausmass rund ein Dutzend eidgenössische Volksinitiativen», schrieb Sprecher Urs Bruderer.
Dabei gehe es schwergewichtig um Unterschriftenlisten aus Gemeinden der Westschweiz, wobei man aber seit letztem Winter auch zunehmend Verdachtsmeldungen aus der Deutschschweiz erhalte.
Was die konkreten Folgen der mutmasslichen Fälschungen angeht, geht Bruderer aber derzeit nicht vom Worst-Case-Szenario aus: «Es liegen keine Hinweise vor, dass Volksinitiativen oder Referenden dank gefälschter Unterschriften zur Abstimmung gelangt sind.» Vielmehr lasse die Zahl der von den Gemeinden für ungültig erklärten Unterschriften darauf schliessen, dass die Kontrolle der Gültigkeit der eingereichten Unterschriften funktioniere.
Verbot gefordert
Für die Bundeskanzlei sei es zentral, dass Verdachtsfälle von Unterschriftenfälschungen zur Anzeige gebracht würden, so Bruderer: «Die betreffenden Unterschriftenlisten wurden allesamt den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt.»
In ersten Reaktionen wurde der Ruf laut, das gewerbsmässige Sammeln von Unterschriften zu verbieten. Die Grünen wollten versuchen, ein solches Verbot so rasch wie möglich zu erreichen, schrieb etwa der Zürcher-Grünen Nationalrat Balthasar Glättli auf der Plattform X (vormals Twitter). «Käufliche Demokratie» müsse Grenzen haben.
5/ Wir @gruenech werden es jedenfalls versuchen, so rasch wie möglich das gewerbsmässige Unterschriftensammeln zu verbieten. #KäuflicheDemokratie muss Grenzen haben.
Bei den Kosten für Beglaubigung und den Kampagnenkosten ist das Geld schon mehr als genug wichtig...
Pikant an der Angelegenheit: Ein Verbot von bezahltem Unterschriftensammeln ist 2021 im Nationalrat abgelehnt worden. Mit 123 zu 61 Stimmen bei einer Enthaltung sprach sich die grosse Kammer damals gegen eine Motion aus, die damit vom Tisch war.
Zwar unterstützten Grüne und SP unterstützten die Motion des früheren SP-Nationalrats Mathias Reynard (VS). SVP, FDP, Mitte und GLP stimmten dagegen. Auch der Bundesrat sprach sich gegen ein Verbot aus. Ein solches wäre «unverhältnismässig und nicht zielführend», argumentierte der damalige Bundeskanzler Walter Thurnherr.
«Längst nicht mehr Einzelfälle»
Die Stiftung für direkte Demokratie sieht Bundesrat und Parlament in der Verantwortung, das kommerzielle Sammeln von Unterschriften «sofort zu unterbinden», wie sie schreibt. Ausgenommen sein müssten Vereine, Verbände und Parteien, deren Mitarbeitende Unterschriften für eigene oder unterstützte Anliegen sammelten.
Es gehe «längst nicht mehr um Einzelfälle», kritisiert die Stiftung auf den Medienbericht hin weiter. Es gehe um ein aus den Fugen geratenes System, das die Sicherheitsansprüche nicht mehr erfüllen könne und neu justiert werden müsse.
Die Stiftung für direkte Demokratie gewährleistet den Betrieb der Demokratie-Plattform Wecollect und stellt digitale Werkzeuge für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos zur Verfügung, wie sie auf ihrer Webseite schreibt.