SeltenheitswertErstmals seit zwölf Jahren: Parlament entscheidet über Gnadengesuch
tsha/SDA
9.9.2020
Das gibt es nur selten in der Schweizer Parlamentsgeschichte: Die Abgeordneten müssen über das Gnadengesuch eines Tschechen entscheiden.
Auf den ersten Blick haben der Stände- und Nationalrat wenig bis gar nichts gemeinsam mit Donald Trump. Eine Kompetenz aber teilen sich das Schweizer Parlament und der US-Präsident: Sie besitzen beide das Recht, Begnadigungen auszusprechen.
Amerikanische Präsidenten nutzen diese Kompetenz immer wieder, zuletzt begnadigte Trump den Bankräuber Jon Ponder. In der Schweizer Geschichte hingegen muss man zwölf Jahre zurückblicken, um einen Fall zu finden, bei dem das Parlament mit einer Begnadigung zu beschäftigen hatte.
Noch länger, nämlich 18 Jahre, liegt das letzte erfolgreiche Gnadengesuch zurück: 2002 ging es um einen Metzger, der eine Busse von 8'000 Franken erhalten hatte, weil er eine grosse Menge Fleisch ohne Anmeldung in die Schweiz eingeführt hatte. Weil der Mann Sühne gezeigt habe und nach einem Autounfall berufsunfähig geworden war, begnadigte ihn das Parlament.
Jetzt ist es wieder so weit: Wie unter anderem CH Media berichtet, müssen die 246 Mitglieder von Ständerat und Nationalrat in Kürze über eine Begnadigung entscheiden. Um welche Person es genau geht, ist nicht bekannt – das Parlament, das sonst immer öffentlich tagt, entscheidet über die Begnadigung im Geheimen.
Bekannt ist: Das Gesuch hat ein Tscheche gestellt, der wegen Betrugs und Geldwäscherei verurteilt worden ist. Der Gesuchsteller war vom Bundesstrafgericht in Bellinzona wegen Betrugs und mehrfacher qualifizierter Geldwäscherei verurteilt worden. Er kassierte dafür eine Freiheitsstrafe von 36 Monaten.
Wann kommt das Parlament zum Zug?
Immer dann, wenn das Bundesstrafgericht oder eine Behörde des Bundes ein Urteil gesprochen hat, hat das Bundesparlament die Möglichkeit, eine Begnadigung auszusprechen. In allen anderen Fällen entscheiden die Kantonsparlamente.
Beim Bund ist die Begnadigungskommission für die Fälle zuständig, der fünf Mitglieder des Ständerates und zwölf Nationalrätinnen und Nationalräte angehören. Ihre Aufgabe ist es, den Fall zu prüfen, den Bundesrat zurate zu ziehen und der Bundesversammlung einen Antrag zu unterbreiten. Im aktuellen Fall des Tschechen empfiehlt die Kommission einstimmig, das Gnadengesuch abzulehnen.
Umstrittenes Verfahren
Prinzipiell kann jeder Verurteilte ein Begnadigungsgesuch stellen. Das Parlament entscheidet darüber nach eigenem Ermessen und muss seine Entscheidung nicht begründen. In die Entscheidung sollen das bisherige Verhalten des Verurteilten einfliessen sowie die Frage, ob die Strafe eine unerträgliche Härte darstellt.
Für Franziska Roth, SP-Nationalrätin und Mitglied der Begnadigungskommission, ist das Verfahren ein letzter Ausweg in Härtefällen. «Umso mehr stehen wir in der Kommission in der Pflicht, uns sorgfältig und gewissenhaft mit den Fällen zu beschäftigen», sagt die Politikerin gegenüber CH Media.
Anders sieht das Stefan Müller-Altermatt von der CVP, der ebenfalls in der Begnadigungskommission sitzt. «In einem auf Prinzipien beruhenden Rechtsstaat mit Gewaltentrennung» erinnere das Begnadigungsrecht des Parlaments «ein wenig an Zeiten, in denen die Obrigkeit in Gerichtsentscheide eingreifen konnte».