Experte über Cybermobbing «Sieht man sein Gegenüber nicht, hat man sich weniger im Griff»

Von Philipp Dahm

26.8.2021

Grausames Phänomen: Cybermobbing hat seine Ursachen oft im realen Leben.
Grausames Phänomen: Cybermobbing hat seine Ursachen oft im realen Leben.
Symbolbild: KEYSTONE

Online-Mobbing beginnt häufig im Offline-Leben: Welche Rolle die Schule und sozialen Kontakte spielen, wie man Betroffenen helfen kann und ob es präventive Massnahmen gibt, erklärt uns Medienpädagoge Joachim Zahn.

Von Philipp Dahm

Online-Hass ist Kindern und Jugendlichen in der Schweiz nicht fremd: 53 Prozent der Mädchen und 41 Prozent der Buben zwischen 12 und 19 Jahren sind schon einmal Opfer geworden, wie der James-Focus-Bericht zeigt.

Während es in der Studie um wissenschaftliche Herangehensweisen und nackte Daten geht, kennt Joachim Zahn das Problem aus der Praxis: Der Sozialarbeiter und Medienpädagoge ist Leiter des Vereins zischtig.ch, der Schulen, Eltern und Betroffene berät.

«Mute the Hate»

Hatespeech gehört im digitalen Raum leider zum Alltag. Dank des neuen Instagram-Guides «Mute The Hate» von Swisscom gibt es jetzt eine einfache Anleitung, wie du richtig auf Hass und Cybermobbing reagierst. Joya Marleen tritt am diesjährigen Energy Air auf am 4. September.

In der Pandemie nutzen mehr Jugendliche das Internet: Hat das Problem Cybermobbing damit zugenommen?

Ja, aber das hat natürlich verschiedene Gründe. Wenn man mehr online ist, ist es auch normal, dass das Phänomen stärker wahrgenommen wird. Es wird von den Schülern mehr zur Sprache gebracht, aber was bei uns signifikant anders war, ist, dass sich viel mehr Lehrpersonen gemeldet haben, die das Phänomen beobachtet haben und Unterstützung brauchten.

Wie erklären Sie sich, dass Menschen im Internet so viel schneller ausfällig werden?

Das hat verschiedene Ursachen. Bei Kindern und Jugendlichen gibt es eine Beisshemmung, sich etwas ins Gesicht zu sagen: Man hat sich weniger im Griff, wenn man sein Gegenüber nicht direkt sieht. Social Media und einige News-Plattformen sind sicherlich auch heftige Vorbilder in Sachen Hatespeech. Durch die Sharing- und Verbreitungsbuttons verschärfen sie mit ihren Likes die Dynamik zusätzlich.

Medienpädagoge Joachim Zahn vom Verein zischtig.ch berät Schulen in Sachen Mobbing und Cyber-Mobbing.
Medienpädagoge Joachim Zahn vom Verein zischtig.ch berät Schulen in Sachen Mobbing und Cyber-Mobbing.
Bild: ZVG

Gibt es dabei Unterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen?

Spontan würde ich sagen, dass bei Erwachsenen häufiger etwas aus festeren Überzeugungen heraus passiert, die sie dann verteidigen wollen, während bei Kindern und Jugendlichen manchmal einfach eine Nachahmung oder ein Ausprobieren dahintersteckt. Ich weiss, dass das im Zusammenhang mit Gewalt schrecklich tönt, aber Junge wollen mitunter vielleicht bloss testen, was geschieht, wenn sie «auch mal beleidigen».

Wie reagieren die Betroffenen auf Online-Hass?

Es gibt Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen: Viele Buben sehen die Sache als eine Art Spiel an. Mädchen schauen eher weg oder finden so was abstossend. Früher hat es ja noch den Begriff Dissen gegeben, in dem Jungen vielleicht eher einen Wettstreit sehen. Das Battle als Kunstform: Wer macht den anderen besser fertig? Ich glaube, Jungs sind da neugieriger und können darin sogar noch einen Unterhaltungsfaktor entdecken – so nach dem Motto: Die geben sich Saures, da muss ich zugucken. Insgesamt machen Kinder und Jugendliche auch oft bei so was mit, um zu einer bestimmten Szene zu gehören, aber das ist jetzt natürlich sehr allgemein formuliert.

Was macht Online-Hass mit den Betroffenen?

Für den Moment bedeutet das generell eine Aufmerksamkeit, die eine Faszination haben kann: «Boah, da geht was Grosses ab!» Nach so einer primären Auswirkung sind die Reaktionen ganz unterschiedlich. Das hat damit zu tun, ob man selbst betroffen ist oder nicht. Gehört man selber etwa einer gewissen Ethnie an und erlebt so etwas mit, findet man es sicher nicht so lustig, wenn andere deswegen beleidigt werden und man indirekt auch zur Zielscheibe wird. Cybermobbing kann so sehr belasten, dass es die Entwicklung einschränkt. Wenn man direkt davon betroffen ist, kann es sehr dramatisch werden – bis hin zur Ausprägung depressiver Phänomene.

Welche Rolle spielt dabei die Schule?

Wir schauen, dass wir das Verständnis dafür in den Schulen stärken. Das Phänomen ist ja häufig auch ans Schulsystem angehängt, ohne dass die Schule etwas dafür kann: Es liegt an den dortigen sozialen Kontakten. Hier ist es wichtig, dass man mit den Schülern anschaut, wann es darum geht, Hilfe zu holen. Es ist nicht okay, einfach zuzuschauen. Nicht nur die Mitmacher, sondern auch die Zuschauer sind verantwortlich, wenn so etwas länger geht. Insofern ist das Umfeld schon wichtig.

Wer noch?

Ich glaube, es ist das gesamte soziale Umfeld: Schaut man weg, weil man denkt: «Das ist Freizeit. Das geht mich nichts an»? Oder sage ich etwa als Lehrperson: «Das tangiert meinen Unterricht, ich spreche das Thema offensiv an»? Wir haben ausserdem gemerkt, dass es entscheidend ist, ob jemand Freunde hat, die einen noch ein Stück Normalität bieten. Das ist ja wie Balsam, wenn man dann einfach nur Fussball spielen oder in die Badi kann, ohne an eine Bedrohung zu denken. Es ist unglaublich wichtig, im Alltag so eine Normalität gewährleisten zu können.

Wie überredet man einen Betroffenen, sich helfen zu lassen?

Das grosse Problem ist, dass das Thema bei vielen auch mit Scham besetzt ist. Leider haben viele das Gefühl, der Hass habe wirklich mit ihnen zu tun, obwohl sie zumeist sehr zufällig Opfer geworden sind. Aus der Erfahrung wissen wir, dass es nichts bringt, Druck zu machen: «Du holst dir jetzt Hilfe, sonst nehme ich dir dein Handy weg.» Wir sprechen die Betroffenen vor allem über das Gefühl an: «Hey, ich weiss, es ist jetzt total schrecklich! Jedoch: wenn du dich mit jemandem beraten kannst, dann gibt das eine total schöne Entlastung. Es ist gut, wenn das dann draussen ist. Es erleichtert das Gefühl, und dann kann man auch Hilfe holen, damit es aufhört.» Die Jugendlichen abzuholen ist ein psychologischer Akt.

Kann man präventiv handeln, um gar nicht erst Opfer zu werden?

Ein Patentrezept gibt es nicht, es kann wirklich jede und jeden treffen. Aber wir haben auch gemerkt: Je mehr man über sich ins Internet stellt, desto leichter macht man es den Hatern, weil man ihnen das Material in die Hand gibt, um etwa Deepfake-Videos oder blöde Foto-Montagen zu erstellen. Ausserdem spielt natürlich eine Rolle, wie man sich selbst im Internet zu freizügig und unbedacht äussert: Das kann entsprechende Reaktionen anregen. Und schnell ist auf diese Reaktion wieder ungünstig reagiert. Das kann schnell in einem Kreislauf enden. Hier ist auch wichtig festzuhalten: Wenn mal was angetreten ist, so lässt sich der Konflikt online nicht mehr lösen.