Trotz Grenzgängern Fachkräftemangel trifft Tessin besonders hart

mmi

3.8.2023

Besonders im Gesundheitswesen, wie hier in der Altenpflege, fehlen die Fachkräfte (Archivbild).
Besonders im Gesundheitswesen, wie hier in der Altenpflege, fehlen die Fachkräfte (Archivbild).
Sina Schuldt/dpa

Das Tessin wird den Mangel an Fachkräften früher zu spüren bekommen als der Rest der Schweiz. Um Arbeitskräfte anzulocken oder zu halten, hat der Kanton erste Massnahmen ergriffen.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der Fachkräftemangel in der Schweiz ist real und hat im Herbst 2022 seinen bisherigen Höhepunkt erreicht.
  • Besonders im Kanton Tessin dürfte man den Fachkräftemangel stärker zu spüren bekommen als die restliche Schweiz – trotz und wegen der rund 80'000 Grenzgänger aus Italien.
  • Die alternde Gesellschaft und mehr aus dem Arbeitsmarkt austretende als eintretende Personen sowie eine veränderte Jobsituation in Italien verschärfen die Situation.
  • Der Kanton Tessin hat erste Massnahmen ergriffen, um Arbeitskräfte anzulocken, zu halten oder zurückzuholen.

Das Thema Fachkräftemangel hat im Kanton Tessin bis anhin wenig beunruhigt – denn bestehende Lücken konnten mit Grenzgängerinnen und Grenzgängern aus Italien gedeckt werden.

Doch was für die Südschweiz bisher eine kurzfristige Lösung war, dürfte sich in den kommenden Jahren zu einem Problem wandeln, wie SRF berichtet.

Gemäss Edoardo Slerca, Wirtschaftswissenschaftler an der Tessiner Fachhochschule Supsi, werden im Tessin mit seinen über 350'000 Einwohner*innen zwischen 2022 und 2026 rund 12'000 Arbeitskräfte fehlen.

Nebst den bereits bekannten Gründen wie der Überalterung oder dem ungleichen Verhältnis von Pensionierten und Personen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, seien die rund 80'000 Arbeitskräfte aus Italien tendenziell jünger als Tessiner Arbeitnehmende, erklärt Slerca.

Viele von den Grenzgängern würden aber in den nächsten zehn Jahren das Pensionsalter erreichen. Deshalb sei der Fachkräftemangel im südlichsen Kanton der Schweiz früher spürbar als anderswo in der Schweiz, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler.

Anlocken und bleiben

Hinzu käme die veränderte Situation auf dem italienischen Arbeitsmarkt. Auch dort stehen in den kommenden Jahren viele Pensionierungen an, so Slerca. Es sei deshalb gut möglich, dass es künftig in Italien wie etwa im Grossraum Mailand viele gute Arbeitsstellen geben werde: Die Menschen fänden im eigenen Land eine attraktive Beschäftigung und dürften deshalb weniger nach Arbeit im Tessin suchen.

Fachkräftemangel, was ist das?

Von einem Fachkräftemangel spricht man, wenn die Nachfrage nach Fachkräften in einem bestimmten Fachbereich ungedeckt bleibt. Anders ausgedrückt gibt es mehr offene Stellen als Arbeitskräfte. Dafür müssen zwei grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein: Ein Fachkräftemangel erstreckt sich flächendeckend über ein bestimmtes Gebiet über einen längeren Zeitraum hinweg.

Um dem Fachkräftemangel Paroli zu bieten, geht es laut Slerca künftig darum, neue Bewohnerinnen und Bewohner ins Tessin zu locken und junge Tessinerinnen und Tessiner nicht abwandern zu lassen. 

Zudem sollen gemäss dem Direktor des Tessiner Wirtschaftsdepartements, Stefano Rizzi, bereits abgewanderte Tessiner*innen wieder heimgeholt werden. Etwa indem ausserkantonal studierenden Tessiner*innen Ferienjobs im Tessin angeboten werden – mit dem Ziel, den Tessiner Betriebsalltag besser kennenzulernen, und in der Hoffnung, dass einige nach Abschluss zurückkehren.

Ein weiterer Trumpf dürfte laut Wirtschaftswissenschaftler Slerca das neue Grenzgänger-Abkommen sein. Das besagt, dass ausländische Arbeitskräfte künftig mehr Steuern an ihrem italienischen Wohnort berappen müssen. Das könnte die Grenzgänger dazu bringen, ins Tessin zu ziehen, so Slerca. 

Zu viele Hilfsarbeiter in der Land- und Forstwirtschaft

Ob und wie die geplanten Massnahmen im Tessin dem Fachkräftemangel entgegenwirken, ist abzuwarten. Fakt ist, der Fachkräftemangel in der Schweiz hat im vergangenen Herbst neue Höhen erreicht – egal ob in der lateinischen oder deutschsprachigen Schweiz.

Gemäss dem Fachkräftemangel-Index des Personal-Dienstleisters Adecco in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich sind besonders Spezialist*innen in Gesundheitsberufen, Entwickler*innen und Analytiker*innen von Software und IT-Anwendungen, ingenieurtechnische und vergleichbare Fachkräfte, Bauführer*innen, Polier*innen und Produktionsleiter*innen sowie Polymechaniker*innen, Produktionsmechaniker*innen, Maschinenmechaniker*innen und -schlosser*innen gesucht. 

Am wenigsten werden laut dem Index Personen in den Berufsgruppen Hilfsarbeitskräfte, Fachkräfte in Land- und Forstwirtschaft und Fischerei, Führungskräfte, allgemeine Büro- und Sekretariatskräfte und sonstige Bürokräfte, Berufe in Sozialwissenschaft und Kultur sowie Berufe im Bereich personenbezogener Dienstleistungen nachgefragt.