In über 1000 Schweizer Wohnungen oder Uhrenateliers ist möglicherweise mit radioaktivem Radium gearbeitet worden. Damit sind fast doppelt so viele Liegenschaften betroffen wie angenommen. Der Bund rechnet mit höheren Sanierungskosten.
Die Universität Bern hat im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) in den letzten Jahren nach Liegenschaften geforscht, in welchen mit Radium gearbeitet wurde. Das radioaktive Element war ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts in allen möglichen Bereichen eingesetzt worden, auch für Kosmetika und Nahrungsmitteln. Die Uhrenindustrie verwendete Radium-Leuchtfarbe bis in die 1960er Jahre für Zifferblätter.
2014 tauchten beim Autobahn-Bau in Biel mit Radium kontaminierte Abfälle auf. Der Bundesrat lancierte daraufhin den Aktionsplan Radium 2015-2019, in dessen Rahmen die Altlast bereinigt werden soll. In diesem Rahmen fand auch die Suche nach belasteten Standorten statt.
Ungefährliche Strahlendosis
Gemäss dem am Dienstag veröffentlichten Bericht ist Radium mit Sicherheit in knapp 700 Liegenschaften eingesetzt worden. Diese werden nun systematisch kontrolliert. Bei über 400 Liegenschaften sind die Messungen bereits abgeschlossen. Dabei stellte sich heraus, dass 64 Wohnungen und 49 Gärten saniert werden müssen.
Wohnungen werden dann saniert, wenn den Bewohnern eine Strahlendosis von mehr als 1 Millisievert (mSv) pro Jahr droht. Maximal wurden bis zu 20 mSv festgestellt. Das liegt immer noch unter dem Grenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen und ist somit ungefährlich.
Gärten werden saniert, wenn die Erde eine Radiumkonzentration von über 1000 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) aufweist. Im Durchschnitt betrugen die gemessenen Radiumhöchstwerte in den Bodenproben aus den sanierungsbedürftigen Gärten knapp 30‘000 Bq/kg. In einem Fall wurde lokal eine Konzentration von bis zu 668‘200 Bq/kg gemessen.
Jurabogen betroffen
Bei weiteren 377 Liegenschaften ist unklar, ob tatsächlich Radium eingesetzt wurde. Es handelt sich zum Beispiel um Ateliers, die Leuchtfarbe bestellt hatten, wobei diese auch das harmlosere Tritium enthalten haben könnte. In den Werkstätten könnten auch nur Uhrenkomponenten montiert oder gelagert worden sein. Laut BAG laufen die Abklärungen weiter.
Betroffen ist vor allem der Jurabogen, das historische Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie. Von den insgesamt über 1000 Liegenschaften befinden sich 342 im Kanton Neuenburg, 289 im Kanton Bern und 155 im Kanton Solothurn. Die übrigen verteilen sich auf 13 weitere Kantone.
Höhere Kosten
Ursprünglich waren die Behörden von rund 500 betroffenen Liegenschaften ausgegangen. Der Bund stellte für die Sanierungen 5 Millionen Franken bereit. Ein Rechtsgutachten war zum Schluss gekommen, dass die Sanierungskosten der Uhrenindustrie nicht auf der Grundlage des Verursacherprinzips auferlegt werden können. Die meisten Unternehmen sind inzwischen ohnehin verschwunden.
Die Industrie sieht sich auch nicht in der Verantwortung. Die Unternehmen hätten sich stets strikt an die geltenden Vorschriften gehalten, sagte François Matile, Generalsekretär der Convention Patronale de l'industrie horlogère suisse, auf Anfrage. Die Strahlenschutzverordnung trat erst 1963 in Kraft.
Aufgrund der höheren Zahl betroffener Standorte wird der Aktionsplan Radium nun möglicherweise bis 2021 verlängert Bis dahin sollen alle Liegenschaften gemessen und allenfalls saniert werden. Das BAG rechnet mit zusätzlichen Kosten von 2 Millionen Franken.
Hohe Dunkelziffer
Ob das Kapitel Radium damit geschlossen werden kann, ist nicht klar. Die Forscher der Universität Bern haben die Liegenschaften nämlich mit einer Archivrecherche gesucht. Damit könnten nicht alle betroffenen Arbeitsstätten ermittelt werden, schreiben sie in ihrem Bericht.
Nicht alle Dokumente seien aufbewahrt worden oder zugänglich. Auch sei nicht jede Verwendung von Radium dokumentiert worden. Die Forscher gehen davon aus, dass sie 90 Prozent der Uhrenunternehmen ausfindig machen konnten, die mit Radium arbeiten. Bei den Heimarbeitern dürfte die Dunkelziffer hingegen deutlich höher sein, wie es im Bericht heisst.
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