«Arbeitsverweigerung» beenden Grüne wollen Europa-Dossier neuen Schub verleihen

SDA/Lia Pescatore/tpfi

15.1.2022

Pandemiebedingt wieder virtuell statt physisch: Balthasar Glättli, Parteipräsident der Grünen, leitet die Delegiertenversammlung der Grünen. 
Pandemiebedingt wieder virtuell statt physisch: Balthasar Glättli, Parteipräsident der Grünen, leitet die Delegiertenversammlung der Grünen. 
Archivbild: Keystone

Die Grünen wollen die Blockade in der Europafrage lösen. Am Samstag verabschiedeten die Delegierten eine Resolution, die den Bundesrat dazu bringen soll, seine «Arbeitsverweigerung» zu beenden.

SDA/Lia Pescatore/tpfi

15.1.2022

Nächste Woche wäre es eigentlich soweit gewesen: Die Deadline der EU zur Ausarbeitung eines Fahrplans für die weitere Zusammenarbeit wäre abgelaufen. Am WEF wollten sich der Vizepräsident der EU-Kommission, Maros Sefcovic, und Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis treffen. Das WEF wurde jedoch bis auf Weiteres verschoben, das Treffen zwischen EU und Schweiz auch. Damit wurde auch die Gnadenfrist verlängert.

Der Bundesrat sei dabei, seine Agenda zu definieren, sagte Ignazio Cassis an der Medienkonferenz nach der bundesrätlichen Sitzung am Mittwoch. In welche Richtung die Verhandlungen gehen sollen, darüber hielt er sich jedoch bedeckt. 



In den Parteien hingegen wurde das Thema an diesem Samstag offen diskutiert. An der Delegiertenversammlungder Grüne war die Beziehung zur EU Thema, die Mitte-Fraktion traf sich zudem zu einer Klausur, in der es ausschliesslich um die EU-Politik ging.

Konstruktive Kooperation mit Europa

Die Grünen wollen Bewegung in die Europa-, Klima- und Gesundheitspolitik bringen. Zwei entsprechende Resolutionen verabschiedeten sie am Samstag an ihrer virtuellen Delegiertenversammlung. Glättli sagte in seiner Präsidialrede, weder Klimaerwärmung noch die Erosion der europäischen Beziehungen «gehen weg, wenn wir die Augen zumachen».

Die Grünen richteten den Blick lieber auf das Potenzial, das eine konstruktive Kooperation in und mit Europa biete, und nicht auf «ein falsches Zerrbild von Brüssel als bösen Gessler, das so nicht mehr stimmt». Die von den Delegierten nach einlässlicher Diskussionen verabschiedete Resolution will, dass der Bundesrat zurück an den Verhandlungstisch mit der EU geht.

Sie will zudem eine Grundsatzdebatte anstossen über den Platz der Schweiz in Europa. Die offene progressive Schweiz müsse die Diskurshoheit zurückgewinnen, die man 30 Jahre der SVP überlassen habe. Das Verhältnis mit Europa bestehe aus mehr als nur dem Freihandel. Viele aktuelle Herausforderungen könnten nur grenzüberschreitend gelöst werden.

Unterschiedliche Sicht auf Europa

In der Diskussion zeigte sich allerdings, dass die Grünen in der Europafrage keine homogene Gruppe sind. Einzelne Kritiker bemängelten etwa ein Demokratiedefizit, Zentralismus und eine aggressive Politik Europas in der Flüchtlingsfrage. Andere orteten in der Resolution eine «gewisse Mutlosigkeit». So müsse man namentlich das Fernziel eines EU-Beitritts wieder salonfähig machen.

Letztlich stimmten die Delegierten der Resolution aber ohne grössere Abänderungen mit 134 zu 3 Stimmen bei 5 Enthaltungen zu. Glättli freute sich über den «erhofften Rückenwind». Nun könnten die Grünen Partner suchen für ein eventuelles künftiges proeuropäisches Initiativprojekt.

Die Mitte beklagt Stillstand

Die Partei Die Mitte fordert den Bundesrat auf, pragmatisch für die Interessen der Schweiz in Brüssel einzustehen. Dabei sei das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Vernetzung, grösstmöglicher Souveränität und sozialer Verantwortung zu wahren.

Zu diesem Schluss kam Die Mitte bei einer Fraktionsklausur, an der die Partei am Samstag in Spiez das weitere Vorgehen im Europa-Dossier diskutierte. Seit der Bundesrat im letzten Mai entschieden habe, die Verhandlungen zum Rahmenabkommen zu beenden, herrsche Stillstand, schreibt die Partei in eine Mitteilung.

«Es ist im Interesse der Schweiz, dass die Beziehungen zur EU – unserer wichtigsten Handelspartnerin, mit der wir auch zentrale gesellschaftliche Werte teilen – weiterhin auf Augenhöhe stattfinden», schreibt die Partei.

Die Mitte stelle jedoch mit Bedauern fest, dass die EU zurzeit nicht gewillt sei, an der seit über zwei Jahrzehnten bewährten Form der Zusammenarbeit festzuhalten. Die Konsequenz davon sei eine mittelfristige Erosion der bestehenden Vereinbarungen zum Nachteil der Schweiz und der EU.

Fehlende Strategie

Während die EU sich klar positioniere, fehle vom Bundesrat bisher eine erkennbare Strategie, hiess es. Die Mitte fordere, dass das zuständige Aussendepartement EDA eine rasche, realistische Lagebeurteilung zuhanden des Bundesrates vorlege, damit dieser über die notwendigen Entscheidungsgrundlagen verfüge. Weitere Verzögerungen in diesem Dossier schadeten der Schweiz.

Zur erfolgreichen Verteidigung der Interessen der Schweiz in Brüssel gehört gemäss der Partei «ein geschicktes Bündeln von für uns annehmbaren Konzessionen», etwa die gezielte dynamische Rechtsübernahme und ein Entgegenkommen bei der Streitbeilegung in definierten Bereichen der sektoriellen Abkommen oder auch eine Verstetigung der Kohäsionszahlungen. Solche Konzession müssen aber immer an konkrete Gegenleistungen geknüpft sein.

Zentral bleibt für die Partei aber, dass das Personenfreizügigkeitsabkommen sowohl von einer dynamischen Rechtsübernahme als auch von einer Streitschlichtung mit Einbezug des EU-Gerichtshofes EuGH ausgenommen bleibe.

Der Bundesrat sei aufgefordert aufzuzeigen, wie der Schutz des Lohnniveaus und der Sozialwerke sowie die Grundsätze der Migrationspolitik gesichert werden könnten, etwa mit griffigen Schutzklauseln, wurde Fraktionspräsident Nationalrat Philipp Matthias Bregy (VS) zitiert.