Sprühendes Leben Harald Naegeli wird 80: Der «Sprayer von Zürich» hat Heimweh

dpa/tafi

4.12.2019

Harald Naegeli, Pionier der Graffiti-Kunst und «Sprayer von Zürich», wird heute 80 Jahre alt. Die Sprühdose hat er «ans Nägeli gehängt», angriffslustig ist er noch immer.

Er ist ein Pionier der Graffiti-Kunst und wurde als «Sprayer von Zürich» berühmt: Harald Naegeli feiert heute, 4. Dezember, seinen 80. Geburtstag – und will in seine Geburtsstadt Zürich zurückkehren. «Meine Lebenszeit und meine Zeit hier ist abgelaufen», spielte Naegeli in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf mit dem Gedanken, Deutschland den Rücken zuzukehren. Doch seinen Umzugstermin hat er bislang immer wieder verschoben.

Vor 35 Jahren war Naegeli nach Düsseldorf gezogen, nachdem er in der Schweiz wegen seiner Sprühkunst ein halbes Jahr ins Gefängnis gesperrt worden war. In diesem Frühjahr dann stand er auch in Düsseldorf vor Gericht. Naegeli wurde zwar nicht verurteilt, aber zu Schadenersatz für seine Graffiti-Kunst verpflichtet. Das hatte ihn entrüstet.



Doch deswegen wolle er Deutschland nicht verlassen: «Ich gehe ohne Groll. Ich gehe wegen mir selbst. Ich habe 40 Jahre in Zürich gelebt. Dieses Ambiente ist für mich für einen Abschluss im Leben bedeutsam. Ich will wieder zurück an meinen Ursprung», sagt Naegeli.

Seine Spray-Aktionen in den 1980er-Jahren machten ihn als «Sprayer von Zürich» bekannt. Mit seinen schwarzen Strichmännchen wandte er sich gegen die Betonisierung der Städte. Schweizer Bürger und die eidgenössische Justiz verfolgten ihn hartnäckig.

Sprühdose ans Nägeli gehängt

«Ich wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht. Der Vorwurf war Sachbeschädigung. Ich habe aber keine Mauer zerstört oder unbrauchbar gemacht.» Naegeli entzog sich dem Schweizer Gefängnis eine Weile durch Flucht. Er kam nach Deutschland, fand Kontakt zu Kunst-Star Joseph Beuys und wurde als Künstler gewürdigt. Von der Kunstwelt sei er längst anerkannt, hatte ihm Kunsthistoriker Siegfried Gohr schon vor Jahren attestiert.

Doch dann wurde er 1983 an der deutsch-dänischen Grenze wegen des internationalen Haftbefehls festgenommen. Beuys und der deutsche Ex-Kanzler Willy Brandt protestierten vergeblich gegen seine Inhaftierung. Nach seiner Haftentlassung zog es ihn nach Düsseldorf.



Der Vorwurf der Sachbeschädigung griff für seine Form der Kunst in Deutschland lange Zeit nicht. Aber inzwischen wurden auch die deutschen Gesetze verschärft: Nun gilt auch schon die äussere Veränderung einer Sache als Beschädigung.

Zu nächtlichen Sprühaktionen breche er inzwischen nicht mehr auf, dazu fehle ihm die Kraft, behauptet der Künstler und lacht: «Ich habe die Sprühdose ans Nägeli gehängt.» Seit Jahren arbeitet er an seiner Urwolke, einem Konvolut von rund 500 Blättern: einer «Meditation über den Punkt», wie er sagt, bestehend aus Millionen kleinen Partikeln.

Wiedergeburt eines Felsenzeichners

Seine Strassenkunst verschwindet allmählich, wird übermalt und verblasst überall dort, wo sie nicht geschützt und konserviert wird. Dagegen sei die Urwolke sein zeichnerisches Vermächtnis. Sie erinnert bewusst an Leonardo da Vincis apokalyptischen Bildzyklus. «Da Vinci dachte, die Erde würde explodieren oder in der Sintflut ertränkt. Bei mir ist eine Harmonie vorhanden. Meine Urwolke ist ein Gegenpol zu Da Vincis Weltuntergang.»

Naegeli stammt aus einer Zürcher Mediziner-Dynastie. Seinen Lebensunterhalt konnte er aus seinem Vermögen bestreiten: «Ich hatte das Glück, mich nicht im Kunstmarkt vermarkten zu müssen. Stattdessen habe ich meine Kunst im öffentlichen Raum tausendfach verschenkt.»



Das sei natürlich eine Herausforderung für die Gesellschaft und eine Kritik am Kapitalismus. «Ich bin eigentlich die Wiedergeburt eines Felsenzeichners. Vor 30'000 Jahren gab es keinen Kapitalismus und keine Kunstvermarktung», sagt er.

Auf seine zahlreichen Reibereien mit dem Staat blickt er inzwischen versöhnlich zurück: «Ohne diese Gegenkräfte wäre ich nicht der, der ich heute bin. Ohne Polizei gäbe es keinen Sprayer von Zürich.»

Ewiger Streit um den «Totentanz»

Museen in Düsseldorf und Berlin haben Teile seines Werkes unlängst als Schenkungen angenommen. In Zürich ist seit langem sein Spraywerk «Undine» unter Schutz gestellt, in Köln sein «Tödlein» am Schnütgen-Museum. In Zürich arbeitet der «Sprayer von Zürich» derzeit an einem legalen Kunstwerk: dem «Totentanz» im Zürcher Grossmünster.



Obwohl das Projekt wegen eines Streites mit dem Kanton unvollendet zu bleiben drohte, wird die Arbeit nach dpa-Informationen wohl doch fertiggestellt. In einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» hatte sich Naegeli im Sommer dagegen gewehrt, seine Kunst mit staatlichen Massstäben massregeln zu lassen: «Den ‹Totentanz› vollende ich selbst dann nicht, wenn mich der liebe Gott darum bittet.»

Es ging bei dem Konflikt um die Überschreitung von vertraglich festgelegten Grenzen um wenige Zentimeter. Doch wie die dpa bei einem Besuch des Künstlers erfahren hat, war Naegeli im November mittendrin in der «Totentanz»-Arbeit. Auch wenn die Zusammenarbeit in der On/Off-Beziehung Naegelis mit der Stadt Zürich zweifellos nicht konfliktfrei bleibt. Aber das war sie ja noch nie.

Als die Sprayer Zürich eroberten

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