Sterbehelferin vor Gericht «Ich bin unschuldig, würde Frau M. aber nicht mehr in den Tod begleiten»

Von Lia Pescatore

30.4.2021

Erika Preisig setzt sich auch international für die Legalisierung der Sterbehilfe ein.
Erika Preisig setzt sich auch international für die Legalisierung der Sterbehilfe ein.
Bild: Keystone/EPA/Thorsten Wagner

Die Sterbehelferin Erika Preisig steht heute erneut vor Gericht, weil sie vor fünf Jahren eine Frau ohne psychiatrisches Gutachten in den Tod begleitet hat. Mit ihrer Rolle als Präzedenzfall hat sie zu kämpfen. Trotzdem scheut sie nicht die Öffentlichkeit.

Von Lia Pescatore

30.4.2021

Erika Preisig ist Hausärztin. Und Sterbehelferin. Für sie sind die beiden Tätigkeiten nicht widersprüchlich: «Die Medizin hat Mittel, um die Lebensqualität sehr lange zu erhalten. Doch irgendwann gibt es keine heilende Hilfe mehr, und dann hat die Medizin auch ein Mittel, um das auf Dauer unerträgliche Leiden zu beenden und das Sterben zu erleichtern», schreibt Preisig. Ihr Ziel: Den Leuten die Wahlmöglichkeit bieten, wie und wann sie sterben wollen. Die 62-Jährige ist Präsidentin der Sterbehilfeorganisation Eternal Spirit und hat selbst schon Hunderte Personen in den Freitod begleitet, darunter auch die 66-jährige Frau M.

Dieser Fall wurde Preisig jedoch zum Verhängnis, sie wurde 2016 unter anderem wegen vorsätzlicher Tötung angeklagt, denn sie verzichtete vor dem Tod von M. auf das Einholen eines psychiatrischen Gutachtens. Das Basler Strafgericht sprach sie 2019 vom Hauptanklagepunkt der vorsätzlichen Tötung frei, verurteilte sie aber in einem Nebenpunkt wegen Verletzung des Heilmittelgesetzes. Beide Parteien haben das Urteil weitergezogen, heute steht Preisig erneut vor Gericht.

«In Vergessenheit zu geraten, ist, was ich anstrebe.»

Strittig ist nach wie vor, ob die Frau zum Zeitpunkt ihres Todes urteilsfähig war. Preisig ist überzeugt: Die Urteilsfähigkeit der Frau war gegeben. Sie stützt sich dabei auf ihre eigene Einschätzung sowie jene von Angehörigen der Betroffenen und von Fachärzten. Auch hätten mehrere psychiatrische Gutachten von Kliniken vorgelegen, welche die Urteilsfähigkeit bestätigen. In der Zeit, als Frau M. den Todeswunsch geäussert habe, habe jedoch kein Psychiater mehr eine Beurteilung machen wollen. Frau M. habe sich wegen traumatischen Erlebnissen zudem geweigert, sich nochmals begutachten zu lassen, so Preisig.

Das Expertengutachten, das die Staatsanwaltschaft nach dem Tod von Frau M. einholen liess, kommt zu einem anderen Schluss. Ihr Leiden habe psychische Ursachen gehabt, die Frau sei nicht urteilsfähig gewesen und hätte darum nicht begleitet werden dürfen.

Für Preisig war die Anklage ein Schock, bis heute ist sie sich keiner Schuld bewusst. Trotzdem würde sie die Frau nicht nochmals begleiten, «weil nie mehr das Schicksal eines anderen Menschen zu meinem Schicksal werden darf», sagt die 62-Jährige.

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Vor Gericht geht es aber um mehr als nur Preisigs und M.s Schicksal, das Urteil wird zum Präzedenzfall. Es wird zeigen, welche Rolle psychiatrische Gutachten in Zukunft bei der Beihilfe zum Selbstmord spielen werden. Denn die Rechtsprechung hat bei diesem Thema ein hohes Gewicht, gesetzlich ist nur wenig geregelt. Für Preisig ist das Gewicht dieses einen Gerichtsfalls bedenklich: «Wenn ein für die ganze Bevölkerung wichtiger Entscheid nur über ein Gerichtsverfahren von diesem Ausmass entschieden werden kann, habe ich Mühe, das zu verstehen», sagt sie.

Was die höhere Gewichtung von psychiatrischen Gutachten bedeuten könnte, erlebte Preisig in den Jahren nach der Anklage: Seither ist ihr untersagt, bei Fällen mit Anzeichen auf eine psychische Erkrankung Sterbehilfe anzubieten ohne ein psychiatrisches Gutachten.

Sie hatte zu dieser Zeit keinen Psychiater zur Hand und sie musste mehrere Sterbewillige abweisen. «Fünf haben sich schlussendlich selbst das Leben genommen, das hat mich sehr erschüttert», sagt Preisig. Der unbegleitete Suizid stehe halt jedem offen, auch ohne Psychiater.

«Sterbetourismus ist unmenschlich»

Auch die darauffolgende intensive Suche nach Fachkräften sei ernüchternd gewesen. «Ich habe Hunderte erklärende Briefe und Bücher an Fachpersonen verschickt, jedoch nur eine einzige Zusage bekommen», sagt Preisig. Der Psychiater, der zugesagt habe, sei aber auch schon über 70, und habe sich wegen seiner eigenen unheilbaren Krankheit schon mit dem Thema auseinandergesetzt. Für Preisig ist klar: So kann es nicht weitergehen. «Es müssen fähige Psychiater gefunden werden, die sich zutrauen, auch im Falle eines Todeswunsches die Urteilsfähigkeit zu beurteilen», fordert sie.

Preisig sagt von sich selbst, sie habe diese öffentliche Rolle nicht gesucht. Die Aufmerksamkeit scheut sie dennoch nicht, um für ihre Ziele zu kämpfen – zum Beispiel die Legalisierung der Sterbehilfe weltweit. Momentan seien Menschen in gewissen Ländern gezwungen, ins Ausland zu reisen, um ihren Sterbewunsch zu erfüllen. Dies erachtet Preisig als «unmenschlich», denn meist seien die Menschen nicht in einem reisefähigen Zustand. Trotzdem bietet ihre Organisation Eternal Spirit auch Ausländern an, in der Schweiz ihre Dienstleistungen zu beziehen. Der Fall des 104-jährigen Australiers David Goodall sorgte international für Schlagzeilen, was Preisig auch als positiv sieht: «Australien hat unter anderem wegen diesem Medienecho den Freitod in einem Teil des Landes legalisiert. Neuseeland folgt.»

Für die Zukunft hat sie zwei grosse Wünsche: Einen Freispruch in allen Punkten für sich selbst, und dass die meisten Länder die Sterbehilfe legalisieren. Denn Preisig ist fest überzeugt, dass sie dann in Vergessenheit geraten würde, «und das ist es, was ich anstrebe».