Streitgespräch zu den AHV-Vorlagen «Irgendjemand muss bezahlen» – «Günstiger gibt's kaum Rentenerhöhungen»

Von Alex Rudolf

8.2.2024

Sie kämpft für eine 13. AHV-Rente für Pensionierte, er will das Rentenalter erhöhen: Die Grüne Katharina Prelicz-Huber und der FDP-Mann Matthias Müller streiten bei blue News über ihre beiden Volksinitiativen.

Von Alex Rudolf

8.2.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Am 3. März entscheidet das Schweizer Stimmvolk über zwei Vorlagen, die die AHV betreffen.
  • Im Streitgespräch mit blue News erklären Katharina Prelicz-Huber von den Grünen und Matthias Müller von der FDP, was ihnen wichtig ist.
  • Während Prelicz-Huber die finanzielle Situation von Pensionierten ins Zentrum stellt, sorgt sich Müller um die Finanzierung der AHV.
  • Bei der Renteninitiative, die das Rentenalter auf 66 anheben will, sind sich die beiden uneinig, wie lange ein Mensch überhaupt gesund bleibt nach der Pensionierung.

Die Umfragewerte für eine 13. AHV-Rente sind vielversprechend. Haben Sie schon gewonnen, Frau Prelicz-Huber?

Katharina Prelicz-Huber: Das wäre schön. Ich glaube aber, dass wir bis zum Schluss eine gute Kampagne fahren müssen. Im Gegensatz zu unseren Gegner*innen verfügen wir nicht über knapp vier Millionen Franken für den Abstimmungskampf.

Die Initiative für eine 13. AHV-Rente geniesst bis weit ins bürgerliche Lager hinein Sympathie. Warum ist das so, Herr Müller?

Matthias Müller: Alle bürgerlichen Parteien haben die Nein-Parole teils sehr deutlich gefasst. Auch die bröckelnden Zustimmungswerte zeigen immer deutlicher: Die breite Bevölkerung merkt, dass die 13. AHV-Rente brandgefährlich ist. Ich bin zuversichtlich, dass wir nochmals stark mobilisieren werden können.

«Sie gehen auf Einkaufstour mit der Kreditkarte der Jungen.»

Matthias Müller

Vater der Renteninitiative

Wie sollen Rentner*innen Ihrer Meinung nach die Teuerung, die steigenden Mieten und die steigenden Krankenkassen-Prämien verkraften, wenn nicht mit einer 13. AHV-Rente?

MM: Die Zahlen des Bundesamts für Sozialversicherungen zeigen klar, dass die 13. AHV-Rente die Finanzierungslücke bis 2050 von 130 Milliarden auf 250 Milliarden Franken verdoppelt würde. Irgendjemand muss das am Schluss bezahlen. Und das sind die Jungen, die Erwerbstätigen, das ist der Mittelstand. Das ist im höchsten Mass asozial.

Katharina Prelicz-Huber
Katharina Prelicz-Huber, Nationalraetin GP-ZH, portraitiert am 10. Dezember 2019 in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Keystone

Katharina Prelicz-Huber ist 64-jährig und sitzt für die Grünen im Nationalrat. Die Zürcherin ist ehemalige Präsidentin des Schweizerischen Verbands des Personals der öffentlichen Dienste (VPOD) und Mitglied des Initiativkomitees für ein besseres Leben im Alter (Initiative für eine 13. AHV-Rente). Sie ist Professorin für Soziale Arbeit, verheiratet und hat einen Sohn.

Wer soll für die Kosten der 13. AHV-Rente aufkommen, Frau Prelicz-Huber?

KPH: Ich möchte festhalten, dass man kaum günstiger zu Rentenerhöhungen kommt als via AHV. Würde die gesamte 13. AHV-Rente über die Arbeitnehmenden und Arbeitgeber*innen bezahlt werden, dann würde dies einer Erhöhung der Lohnbeiträge um je 0,4 Prozent entsprechen. Das sind 80 Rappen pro Tag bei einem durchschnittlichen Lohn. Dafür hat man später rund 150 Franken mehr Rente.

MM: Die Gewerkschaften hatten nicht einmal den Mut, der Bevölkerung eine Finanzierungslösung für die 13. AHV-Rente zu offerieren. Bereits 2026 kippt das Umlageergebnis der AHV ins Negative. Was die Gewerkschaften mit ihrer Initiative machen, ist eine Form der politischen Wohlstandsverwahrlosung. Sie gehen auf Einkaufstour mit der Kreditkarte der Jungen. Sie müssten die Rechnung über weiter steigende Lohnabzüge oder über eine weiter steigende Mehrwertsteuer überproportional stark berappen.

KPH: Die AHV, ein Werk bürgerlicher Mehrheiten, wurde bei ihrer Einführung 1948 als «Fairnesspakt» beworben, weil alle wissen, dass sich Menschen mit unteren und mittleren Einkommen niemals alleine eine würdige Rente erarbeiten können. Aber jene mit gutem Einkommen haben etwas übrig für den gesamten AHV-Topf. Weil alle 4,35 Prozent von ihrem Lohn in die AHV einzahlen, beziehen 92 Prozent der Bevölkerung mehr von der AHV, als sie einzahlen – also Menschen weit in den Mittelstand hinein. Die Millionensaläre zahlen mehr ein.

Matthias Müller
Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz, spricht von einer «willkürlichen und ungerechten Quote». (Archivbild)
Keystone

Matthias Müller ist 31-jährig und Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz sowie Vizepräsident der FDP Kanton Zürich. Er gilt als Vater der Renteninitiative. An der Hochschule St. Gallen studierte er Rechts- mit Wirtschaftswissenschaften, doktorierte an der Universität Zürich und erlangte das Anwaltspatent im September 2023.

Dennoch geht der AHV laut Berechnungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen per 2030 das Geld aus.

KPH: Das sind Worst-Case-Szenarien. Bis zum Jahr 2030 gibt es keine Probleme. Bis dann nehmen wir gar zwei bis drei Milliarden mehr ein, als wir eigentlich benötigen. Seit Ende der 1950er-Jahre wird behauptet, die AHV stehe vor dem Ruin, nie ist es eingetroffen.

MM: Das stimmt nicht. In einem kürzlich veröffentlichten Interview sagte Stéphane Rossini, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen und ehemaliger SP-Nationalrat, dass die AHV heute nur wegen der Steuerreform 2019 und der AHV 21 stabil sei. Nach 2030 kippt die AHV sehr rasch dramatisch ins Negative.

KPH: Wenn man vom Worst-Case-Szenario ausgeht, was bisher nie eingetroffen ist. Zudem beläuft sich das AHV-Vermögen dann auf 70 Milliarden Franken.

Wenn es im Alter an Geld fehle, gebe es Ergänzungsleistungen (EL), heisst es vonseiten der Gegner*innen. Die Leserschaft von blue News hat in diversen Kommentaren darauf verwiesen, dass der Bezug von EL mit Scham verbunden und kompliziert sei. Können Sie das nachvollziehen, Herr Müller?

MM: Ich verstehe nicht, warum die EL so in Verruf geraten und mit Scham behaftet sind. Sie sind in der Verfassung verankert und da, um den Menschen zu helfen, die alleine mit der AHV nicht über die Runden kommen. Die Menschen haben einen Rechtsanspruch darauf. Ich bin dafür, dass die bürokratischen Hürden gesenkt werden, was die EL betrifft.

Nur jede achte Person bezieht Ergänzungsleistungen – es geht den meisten also finanziell gut. Ist es nicht verschwenderisch, wenn aber alle eine 13. AHV-Rente erhalten?

KPH: Ein Drittel der Menschen, die Anspruch auf EL haben, beziehen diese aus Scham nicht. Mithilfe der FDP wurden auf dieses Jahr Neuerungen in Kraft gesetzt, wonach es schwieriger wird, überhaupt EL zu beziehen. Und: Mehr als die Hälfte der Rentner*innen verfügt heute über eine Rente aus der ersten und zweiten Säule, die tiefer ist als 3500 Franken. Erst wenn man mit 1000 Franken weniger auskommen muss, hat man Anspruch auf EL. Das ist doch keine würdige Existenz im Alter, wie es die Verfassung vorschreibt.

Wie machen Sie den Frauen ein Nein schmackhaft, Herr Müller? Immerhin verfügen viele von ihnen über keine zweite Säule und sind auf eine starke AHV angewiesen.

MM: Leider ist es eine Tatsache, dass Frauen überproportional von Altersarmut betroffen sind. Das ist aber ein Symptom aus einer früheren Zeit, das sich nun bemerkbar macht. In meinem Umfeld sind die Frauen berufstätig und legen sich eine dritte Säule zu. Ich bin absolut dafür, dass man jenen Rentner*innen hilft, die es nötig haben, wie es beispielsweise die Motion Mettler im Nationalrat und die Motion Rieder im Ständerat wollen. Hierbei sollen die Minimalrenten erhöht werden. Kostenpunkt: immerhin eine Milliarde Franken.

KPH: Es stimmt einfach nicht, dass man sich mit der zweiten Säule automatisch ein tolles Rentnerleben finanzieren kann. Es ist enorm lohnabhängig. Wer wenig verdient hat, erhält wenig aus der BVG, und wer viel verdient hat, erhält mehr aus der BVG. Lediglich ein Drittel der heutigen Rentner*innen kann den gewohnten Lebensstandard fortführen. Zudem haben wir enorme Lohnunterschiede, die dann eine schlechte Rente generieren: In sogenannten «Frauenberufen» wie in der Pflege und in der Betreuung verdient man deutlich weniger als in der Finanzbranche.

Zur zweiten Vorlage: Herr Müller, Sie fordern, dass das Rentenalter bis 2033 schrittweise auf 66 Jahre angehoben und anschliessend an die Lebenserwartung gekoppelt wird. Warum?

MM: Wir fordern dies wegen des demografischen Wandels. 1948 hatte eine Person nach der Pensionierung durchschnittlich noch zwölf Lebensjahre vor sich. Heute sind wir bei 20 Jahren und ab 2050 geht man von 25 Jahren aus. Die Bezugsdauer wird sich also bald verdoppelt haben. Auch der Bundesrat geht davon aus, dass die AHV deshalb auf eine harte Probe gestellt wird. Mit unserer Renteninitiative wollen wir die AHV endlich zukunftsfest und enkelfit machen.

KPH: Wir hatten während 45 Jahren keine Anpassungen seitens der Beiträge, obwohl sich die Anzahl Bezüger*innen verdoppelt hat. Das Umlagesystem funktioniert. Hier geht es um die Generationensolidarität. Wollen wir unseren Senior*innen ein Leben in Würde gönnen oder nicht? Das Argument, dass dies nur zulasten der Jungen gehe, lasse ich nicht gelten. Denn die Jungen wurden 20 bis 25 Jahre lang gehegt und gepflegt, bis sie flügge waren. 

MM: Generationensolidarität ist wichtig. Aber ich glaube auch, dass die Generationensolidarität überstrapaziert werden kann. Wir leben nicht nur länger, wir leben auch länger gesund. Gleichzeitig haben wir auch eine veränderte Bevölkerungsstruktur bis 2050. Wir haben bis dann nämlich eine Million mehr Leute, die eine AHV beziehen werden. 1948 hatten wir 6,5 Menschen, die eine AHV-Rente finanzierten. Im Jahr 2050 werden es nur noch 2,2 sein. Das bringt die AHV in eine massive Schieflage.

«Viele dieser 92 Prozent machen die Drecksarbeit, zu welcher die acht Prozent nicht bereit wären.»

Katharina Prelicz-Huber

Nationalrätin Grüne und ehemalige VPOD-Präsidentin

Zudem ist es sinnvoll, wenn man über den Tellerrand blickt und vergleicht, wie die Länder um uns herum den demografischen Wandel angehen. Was machen Italien, Portugal, Spanien, Schweden oder Dänemark? Das sind alles Länder, die das Rentenalter hinaufgeschraubt haben auf 67 Jahre oder mehr und die es darüber hinaus an die Lebenserwartung geknüpft haben, wie es unsere Initiative vorschlägt.

KPH: Für mich ist relevant, dass alle eine würdige Rente im Alter haben. Zudem stimme ich nicht mit der Aussage überein, dass wir länger gesund leben. Gemäss Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit leben wir durchschnittlich bis zum 68. Lebensjahr gesund, danach nimmt die Gesundheit ab. Auch kommt es darauf an, in welcher Branche man gearbeitet hat. Einige gesunde Jahre im Rentenalter mag ich allen gönnen.

MM: Wir rechnen bei unserer Initiative mit der durchschnittlichen Lebenserwartung. Wir können nicht für jedermann ein individuelles Rentenalter definieren. Das führt zu nichts. Wir können uns beide als Beispiele nehmen. Sie, Frau Prelicz-Huber, haben als Frau eine vier Jahre höhere Lebenserwartung als ich. Niemand würde deshalb auf die Idee kommen, Frauen vier Jahre länger arbeiten zu lassen.

KPH: Nein, als Ausgleich der vielen Gratisarbeit im Care-Bereich, die ich und die meisten Frauen in ihrem Leben geleistet haben.

MM: Das stimmt. Und dafür sind wir dankbar. Aber Männer verbringen auch viel Zeit im Militär.

KPH: Auch dann hätten wir Frauen noch mehr gratis gearbeitet.

Wer es sich leisten kann, geht schon heute in Frühpension. Trifft Ihre Initiative die Falschen, Herr Müller?

MM: Die AHV betrifft uns alle, deshalb sind alle von Änderungen betroffen. Sollte ein Top-Verdiener bereits mit 50 Jahren in Pension gehen wollen, dann soll er das tun. Er verzichtet damit auf Rentenansprüche und entlastet die AHV. Schliesslich dürfen wir nicht vergessen: Diese acht Prozent der Bevölkerung, die mehr in die AHV einzahlen, als sie beziehen, haben enorm viel AHV-Beiträge bezahlt. Ohne die Reichen würde es die AHV, wie wir sie heute kennen, nicht geben.

KPH: Ja, das ist aber auch richtig so, alle zahlen denselben Prozentsatz ihres Lohnes in die AHV. Das ist nur fair. Zudem: Viele dieser 92 Prozent machen die Drecksarbeit, zu welcher die acht Prozent nicht bereit wären.

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