Deza-Direktorin Patricia Danzi «Sogar im Krieg entdeckt man Menschlichkeit»

Von Gil Bieler und Christian Thumshirn

17.3.2022

«Unsere Arbeit war sicher nicht umsonst»

«Unsere Arbeit war sicher nicht umsonst»

Von Getreideproduktion bis Rubel-Zerfall: Deza-Direktorin Patricia Danzi hat bereits die zweiten Schockwellen des Krieges in der Ukraine im Blick. Im Interview erklärt sie, was die Schweiz tun kann und wie sie mit Wladimir Putin verhandeln würde.

15.03.2022

Von Getreideproduktion bis Rubel-Zerfall: Deza-Direktorin Patricia Danzi hat bereits die zweiten Schockwellen des Krieges in der Ukraine im Blick. Sie erklärt, wie die Schweiz hilft und wie sie mit Putin verhandeln würde.

Von Gil Bieler und Christian Thumshirn

17.3.2022

Frau Danzi, die ganze Welt blickt gerade fassungslos auf die Ukraine. Sie sind häufig in Krisen- und Kriegsgebieten unterwegs: Härtet das ab?

Die persönliche Ebene gibt es auch bei mir. Wenn man schon an Kriegsschauplätzen war, kann man auch erahnen, was sich alles hinter den Kulissen abspielt: mentale Probleme, Schicksalsschläge, Traumata. Das geht mir sehr nahe. Aber für mich gilt es gleichzeitig, eine professionelle Antwort auf diese Krise aufzubauen: klären, was gemacht werden kann, und Leute organisieren. Dafür braucht es eine gewisse Distanz und klares Denken. Aber diese beiden Sichtweisen lassen sich nicht strikt voneinander trennen.

Die Gefechte sind im Gange, was können Sie da vorbereiten?

Zur Person

Patricia Danzi ist seit 2020 Direktorin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Davor war sie lange Jahre für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Einsatz, unter anderem auf dem Balkan, in Peru, in der Demokratischen Republik Kongo und in Angola. Als Leichtathletin vertrat Danzi die Schweiz 1996 an den Olympischen Sommerspielen.

Die Deza kann vor allem zu Beginn einer Krise sehr schnell humanitäre Hilfe leisten. Effiziente Katastrophenhilfe ist eine Stärke der Schweiz. Wir haben bereits mehrere Hilfslieferungen in die Region durchgeführt, in die Ukraine und deren Nachbarländer, auch bis nach Kiew. Nebst der humanitären Soforthilfe gilt es auch umzuprogrammieren. Die Schweiz ist in der Ukraine seit Langem in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit tätig, Deza und Seco spannen da zusammen. Es geht da beispielsweise um Wasser- und medizinische Versorgung. Hier müssen wir mit den Partnern vor Ort gerade vieles neu organisieren, um Programme den Gegebenheiten anzupassen, Online-Kriegsmedizin zu unterrichten, alte Brunnen wieder in Betrieb zu nehmen, die Planung der Unterkunft von Binnenflüchtlingen in die Wege zu leiten sind Beispiele dafür.

Sind noch Deza-Angestellte vor Ort tätig?

Die Schweizer Botschaft und unser Kooperationsbüro in Kiew wurden temporär geschlossen. Einige unserer Angestellten haben das Land verlassen, manche haben sich auch entschieden, zu bleiben. Die Equipe arbeitet jedoch weiter, und ihre Einsätze werden neu organisiert.

Der Krieg hat immense Auswirkungen auf das Land und die Menschen. Welcher Aspekt bereitet Ihnen am meisten Sorgen?

Dass das humanitäre Völkerrecht nicht respektiert wird. Spitäler werden bombardiert, in der Nähe von Atomkraftwerken wird gekämpft, die Zivilbevölkerung wird an der Flucht gehindert. Und das, obwohl die beteiligten Armeen das Kriegsrecht sehr genau kennen und eine der Kriegsparteien als ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat vertreten ist.

Aber das Völkerrecht lässt sich nicht einfach so durchsetzen.

Man kann und muss immer wieder Appelle machen. Die gesamte internationale Gemeinschaft muss den Respekt und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts immer thematisieren. Es sind keine leeren Paragrafen, dahinter stehen Menschen, die Anrecht auf Schutz haben, Verletzte, die in Spitälern versorgt werden sollen, Kriegsgefangene, die mit Respekt behandelt werden müssen. Es darf nie vergessen gehen.

Braucht es in der aktuellen Situation noch weitere Hilfsgüter?

Ja, vor allem für jene, die nicht aus der Ukraine fliehen können. Mehrere Städte sind umzingelt, ohne stabile Strom- oder Wasserinfrastruktur. Es fehlt den Menschen an Gütern, um die Grundbedürfnisse zu decken. Aber Hilfsgüter in diese Städte zu bekommen, ist schwierig.

Konnte die Deza schon erfolgreich Lieferungen durchführen?

Die Schweiz liefert Hilfsgüter in das angrenzende Ausland, von wo aus sie durch lokale Partnerorganisationen in die Ukraine verteilt werden. So erreicht die Hilfe die Menschen, die sie nötig haben, wobei das nicht in allen Städten gleich einfach ist. Mariupol zum Beispiel ist im Moment kaum zu erreichen. Man darf aber nicht vergessen: Die Zivilbevölkerung hilft sich auch selber. Die Menschen warten nicht tatenlos, bis Hilfe von aussen kommt, und die Regierung arbeitet pausenlos. Es gibt zum Beispiel weiterhin funktionierende Feuerwehr und Polizei. Die Schweiz hat über Jahre hinweg dazu beigetragen, Strukturen aufzubauen und Systeme zu stärken, auch dezentral. Das hat sich gelohnt.

Lässt sich schon erahnen, wie tiefreichend die Konsequenzen dieses Krieges sein werden?

Das kommt darauf an, wie lange der Krieg dauert. Er hatte aber schon in sehr kurzer Zeit einen massiven Einfluss auf die Nachbarländer. Zum einen durch Flüchtlinge, die Richtung Westen ziehen. Aus Schweizer Sicht ist das die offensichtlichste Kriegsfolge. Die Länder in Zentralasien, aus denen viele Gastarbeiter in Russland arbeiten, sind auch sofort betroffen. Ihre Überweisungen machen etwa in Usbekistan oder Kirgistan einen grossen Teil des Bruttoinlandprodukts aus – der Wertezerfall des Rubels trifft daher auch diese Länder hart. Die Ausfälle bei der Getreideernte wiederum werden für den Mittleren Osten ein Problem, für den Jemen oder den Libanon. All diese Aspekte stehen derzeit noch nicht im Fokus. Doch auch diese versuchen wir, in unsere Planung einfliessen zu lassen.

Patricia Danzi ist seit 2020 Direktorin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza).
Patricia Danzi ist seit 2020 Direktorin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza).
Bild: thc

Und wie sehen die Folgen für die Ukraine selber aus?

Einer Studie zufolge wurde innert zweier Wochen Infrastruktur im Wert von neun Milliarden Dollar zerstört. Das lässt sich wieder aufbauen, aber trotzdem: Das sind immense Summen, und dieses Geld muss man erst einmal zusammenbekommen. Was man nicht so einfach wieder aufbauen kann, sind die Menschen. Familien werden auseinandergerissen, wenn der Vater nicht über die Grenze darf, weil er kämpfen muss. Frauen riskieren, Opfer von sexueller Gewalt oder Menschenhandel zu werden, es gibt viele Tote und Verletze, viele Menschen sind Zeugen von Kriegsszenen, die sie sich nie vorgestellt hätten und erleben Momente der Todesangst. Je länger der Krieg andauert, desto mehr solcher Traumata gibt es – das kann ganze Generationen beeinflussen. Noch sind wir in der Ukraine nicht so weit, aber die Gefahr eines länger andauernden Konflikts besteht leider, wir wissen nicht, wie sich die Lage entwickelt.

«Je länger der Krieg dauert, desto mehr Traumata gibt es – das kann ganze Generationen beeinflussen.»

Wie steht es um das künftige Verhältnis zwischen Ukrainern und Russen?

Die Verbindungen zwischen beiden Ländern sind sehr eng, viele Familien haben Mitglieder auf beiden Seiten. Verwerfungen können, das zeigen Erfahrungen aus anderen Kriegen, durchaus wieder gekittet werden. Aber dieser Prozess muss begleitet, Kriegsverbrechen müssen aufgearbeitet werden. Die Opfer müssen das Gefühl einer Genugtuung erhalten – dann kann eine Aussöhnung gelingen.

Die SVP fordert, dass Flüchtlingen vor allem in den Nachbarländern der Ukraine geholfen wird. Ein sinnvoller Ansatz?

Die Menschen wissen selber, wo sie hinwollen, wo sie bereits Familien oder Sprachkenntnisse haben. Man sollte die Flüchtlinge entscheiden lassen. Es freut mich aber überaus, dass die Schweizer Bevölkerung so viel Herz für die Ukrainerinnen und Ukrainer zeigt. Das ist eine Voraussetzung, damit sie sich willkommen fühlen und integrieren können – in welchem Land auch immer.

Der Bundesrat hat Ukraine-Vertriebenen den Schutzstatus S gewährt. Für Menschen aus Afghanistan oder Syrien gab es das nicht. Zeigt das, dass mit dem nötigen Willen auch mehr möglich wäre in der Flüchtlingspolitik?

Dass der Schutzstatus S zum ersten Mal aktiviert wurde, finde ich eine gute Sache. Ich hoffe, dass wir die Solidarität, die die Schweizer gegenüber den Ukrainern zeigen, auch auf andere Bevölkerungsgruppen ausweiten können. Dass das Bewusstsein dafür, was es heisst, Flüchtling zu sein, geschärft wird. Denn niemand flieht freiwillig aus seiner Heimat.

Die Deza hat sich seit Jahren für eine friedliche Lösung des Konflikts in der Ostukraine eingesetzt. Wurde all diese Arbeit jetzt zunichtegemacht?

Nicht unbedingt. Unsere Friedensbemühungen waren und bleiben wichtig. Die Schweiz war das einzige Land, das Hilfsgüter von der Ukraine in den Donbass liefern konnte, über die sogenannte Kontaktlinie. Diese guten Dienste werden wir auf die eine oder andere Weise weiterführen im Rahmen der verschiedenen Friedensbemühungen. Auch zeigen unsere Unterstützungsprogramme für Gemeinden und Organisationen in der Ukraine jetzt durchaus Früchte – leider unter sehr tragischen Umständen. Schlechter sieht es aus für die Infrastrukturprojekte, die die Schweiz unterstützt hat.

Stand heute weiss man aber nicht, was mit der Ukraine passiert.

Im Moment legen wir einen starken Fokus auf die Nothilfe, auf den Zugang und auf den Schutz der Zivilbevölkerung. Verschiedene Regierungsstellen oder Städte möchten aber, dass unsere Programme den Bedingungen angepasst und weitergeführt werden – das werden wir auch machen. Wer in einem halben Jahr, in einem Jahr an der Macht ist und wie sich die Situation dann darstellt, werden wir sehen.

In einem Interview sagten Sie, vor Verhandlungen überlegen Sie sich jeweils einen «Leverage», einen Hebel, an dem Sie bei Ihrem Verhandlungspartner ansetzen könnten. Wo wäre solch ein Hebel beim russischen Präsidenten Wladimir Putin?

Ich würde sicher mit einer Delegation anreisen, die zur Hälfte aus Frauen besteht.

Aus welchem Grund?

Bei Friedensverhandlungen sitzen meist nur Männer am Tisch. Auch auf den Fotos der Gespräche im türkischen Antalya oder in Belarus sind mir keine Frauen aufgefallen. Das ist eine persönliche Einschätzung von mir, aber: Ein Krieg ist eine sehr extreme Konfrontation, und wenn sich Männer gegenübersitzen, die Krieg miteinander geführt haben, fällt diese Konfrontation nicht einfach weg. Frauen können eine andere Perspektive einbringen, jene des Leidens der Zivilbevölkerung, auch der Kinder, der zerrissenen Familien, der Traumata, und so beim Gegenüber eine andere Saite zum Klingen bringen.

«Frauen können eine andere Perspektive einbringen.»

Was würden Sie bei Verhandlungen sonst noch beachten?

Ich würde versuchen, mit sogenannten Easy Wins anzufangen. Beide Seiten haben Kriegsgefangene, also kann man über einen Austausch verhandeln. Wichtig ist ausserdem, zuzuhören. Was will mein Gegenüber? Was ist seine Perspektive? So kann man herausfinden, welche Kompromisse möglich sind. Das Ziel muss sein, dass beide Parteien aus der Verhandlung einen Gewinn ziehen können – und dass die Menschlichkeit gewahrt wird. Denn je länger ein Krieg dauert, desto tiefer sind die Wunden. Ich bin erleichtert, dass überhaupt noch verhandelt wird, denn am Verhandlungstisch können Kriege beendet werden.

Jetzt haben Sie über Vorteile als Frau gesprochen. Gibt es auch Nachteile, etwa mit Verhandlungspartnern aus sehr patriarchalischen Kulturen?

Ich persönlich habe es nie als Problem erlebt. Meist gibt es im Gegenteil Respekt dafür, dass eine Frau Verhandlungen führt. Seltsame Momente ergeben sich meist am Anfang, wenn ich mit Kollegen unterwegs bin. Oft wird angenommen, dass der weisse Mann zwingend der Delegationsleiter sei. Doch nach wenigen Sekunden ist diese Irritation vorbei. Es kommt auf den Inhalt der Gespräche an.

Vor gut einem halben Jahr hat die Welt nach Afghanistan geblickt, weil die Taliban die Macht an sich gerissen haben. Die deutsche Journalistin Natalie Amiri sagte mir kürzlich, sie habe noch nie so viel Hunger in dem Land gesehen wie jetzt. Ist die Lage wirklich so katastrophal?

Leider ist die Situation wirklich dramatisch. Nach der Machtübernahme der Taliban im August haben viele Menschen ihr Einkommen von einem Tag auf den andern verloren. Viele zogen von den Städten aufs Land, wo die Lebenshaltungskosten tiefer sind. Dennoch ist die Situation sehr, sehr schwierig. In der Folge kommen wieder die berüchtigten Bewältigungsstrategien zum Zug: Töchter werden im jungen Alter verheiratet, der Organhandel blüht auf – traurige Geschichten. Die internationale Gemeinschaft hat ein Parallelsystem aufgebaut, um die Übergangsregierung der Taliban zu umgehen.

Was meinen Sie damit?

Die Schweiz anerkennt Staaten, nicht Regierungen. Die Übergangsregierung der Taliban ist noch von keinem Staat anerkannt worden. Das Dilemma, das viele Länder – auch die Schweiz – haben, ist, dass ein Weg gesucht wird, um die Bevölkerung zu unterstützen, an der Übergangsregierung vorbei. Das führt dazu, dass nicht-staatliche Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz oder die UNO den Staat substituieren, um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung abzudecken, etwa im Gesundheitswesen. Das ist kurz- und mittelfristig machbar, jedoch nicht nachhaltig.

Die Schweiz hat ihr Büro in Kabul geschlossen …

… temporär.

… was aber auch schon über ein halbes Jahr her ist. Wie unterstützt die Schweiz die Menschen in Afghanistan?

Wir haben Ende 2021 einen Zusatzkredit über 33 Millionen Franken erhalten, mit dem wir internationale und lokale Organisationen unterstützen können. Und von unseren Programmen, die wir mit Partnern im Land betrieben haben, mussten wir nur 4 einstellen, 20 laufen weiter in einer Form, die den Gegebenheiten angepasst wurde. Hier geht es um Agrarwesen und darum, das Land gegen die Folgen des Klimawandels zu rüsten. Das bleiben wichtige Themen, egal, wer an der Macht ist. Was unter den Taliban schwieriger geworden ist, sind dagegen Programme zu Menschenrechten. Es gilt, die Taliban stets daran zu erinnern, dass der Respekt der Menschenrechte und Inklusion zentrale Themen bleiben werden, woran sie gemessen werden.

Afghanistan wurde 20 Jahre lang grosszügig aus dem Ausland unterstützt, trotzdem steht das Land heute so schlecht da. Was ist schiefgelaufen?

Es gibt Erfolge, die Bildungsprogramme etwa haben durchaus eine Wirkung erzielt. Wenn man den Menschen etwas beibringt, dann geht dieses Wissen ja nicht wieder verloren, nur weil die Regierung wechselt. Aber es gab auch Fehler. Dass der afghanischen Bevölkerung nicht immer gut genug zugehört wurde, was sie brauchen – gerade in ländlichen Gebieten sind Traditionen stärker verwurzelt. Die Regierung vor dem Machtwechsel der Taliban hat die Schweiz nicht direkt unterstützt. Es gab diverse Governance-Probleme.

Können Sie das konkreter benennen?

Korruptionsvorwürfe. Aus diesem Grund arbeiteten wir auch mit der früheren Regierung nicht direkt zusammen, sondern mit Partnerorganisationen.

Momentan erleben wir eine Krise nach der nächsten, was viele ermüdet. Für Sie ist das Alltag: Hängt Ihnen das nicht an?

Man muss in diesem Beruf sicherlich sowohl optimistisch wie auch realistisch bleiben, und das Gute suchen und sehen. Sogar in einem Krieg entdeckt man immer wieder Menschlichkeit und Solidarität. Solange es das gibt, besteht auch Hoffnung – und das motiviert uns.