Unwetter-Mythen im Fakten-CheckIst der Klimawandel schuld an den Toten in der Südschweiz?
Stefan Michel
5.7.2024
Die verheerenden Unwetter der vergangen Wochen in der Südschweiz werfen Fragen auf. Werden solche Katastrophen häufiger? Sind Dörfer in den Alpen noch sicher? Das Forschungsinstitut WSL hat Antworten.
Stefan Michel
05.07.2024, 11:17
Stefan Michel
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Klimaerwärmung macht extrem ergiebige Niederschläge häufiger. Ob diese auch zu mehr Erdrutschen und Murgängen führen, ist nicht gesichert.
Erdrutsche und Murgänge entstehen aus einem Zusammenspiel von steilen Bergbächen, vorangegangenen Rutschungen und starken Niederschlägen.
Bedroht sind naturgemäss Menschen, die in steilen Berggebieten wohnen. Doch auch im Mittelland fordern Naturereignisse immer wieder Menschenleben.
Innert einer Woche schlägt die Natur zweimal hart zu: Zuerst im Oberwallis und Misox und am darauffolgenden Wochenende in Saas Grund und im oberen Maggiatal. Zudem steht das Chablais an der Mündung der Rhone in den Genfersee unter Wasser.
Einige Schlüsse drängen sich auf: Solche Extremereignisse werden häufiger, sie fordern mehr Opfer und sie betreffen besonders oft die Alpensüdseite. Die Menschen im Mittelland haben hingegen ausser Materialschaden wenig zu befürchten. Doch stimmt das? Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Landschaft und Schnee WSL klärt auf.
Werden Extremereignisse häufiger?
Die WSL führt seit 50 Jahren eine Datenbank der Unwetterschäden. Das Jahr 2024 ist darin noch nicht erfasst. Doch es zeigt sich: Zumindest finanziell waren die letzten 15 Jahre nicht folgenschwerer als jene davor. Mit Abstand schadensreichstes Jahr war 2005 mit den Überschwemmungen in Graubünden, der Zentralschweiz und in Bern.
Ist der Klimawandel schuld?
Die WSL schreibt in einer neuen Online-Publikation: «Mit dem Klimawandel werden nach dem heutigen Kenntnisstand grosse Niederschlags-Ereignisse häufiger.» Wie oft diese zu Erdrutschen oder Murgängen führen, sei jedoch nicht klar. Zu komplex seien die Zusammenhänge zwischen «Abfluss, Geschiebetransport, allfälligen Murgängen, Schutzmassnahmen und letztlich der Schadenswirkung». Gesichert ist nur, dass öfter Starkregen fällt. Ob das zu mehr Erdrutschen und Murgängen führt, werden die kommenden Jahre zeigen.
Den Zusammenhang zwischen Starkregen und Erdrutschen erklärt Christoph Hegg, Interims-Leiter des WSL im Radio SRF: Es sei schon viel Feuchtigkeit im System gewesen. Die steilen Hänge und Bäche im Tessin könnten dann viel Geschiebe mitreissen. Da, wo das Gelände flacher werde, lagere sich dieses ab, der Bach werde gestaut und dann könne ein Murgang über das Bachbett hinaus Häuser zerstören oder sogar zu Todesfällen führen.
Wo ist der Zusammenhang zwischen der Erderwärmung und Murgängen in den Alpen?
Wärmere Luft speichert mehr Feuchtigkeit als kühlere. Diese zusätzliche Wassermenge führt zu mehr Niederschlag. Das WSL führt aus: «Die Erwärmung der Erdatmosphäre aufgrund des Klimawandels erhöht deshalb das Potenzial für Starkniederschläge.»
Die steigenden Temperaturen in den Alpen lassen zudem Permafrostböden auftauen, was zu zusätzlichem Steinschlag und Rutschungen führen kann. «Sammelt sich das Material in Gerinnen an, so kann dies bei intensiven Regenfällen in Form von Murgängen talwärts transportiert werden», erklärt WSL-Forscherin Käthi Liechti. Die Bergbäche haben sozusagen mehr Munition, das sie ins Tal schieben, wenn ein Gewitterregen ihnen die Kraft dazu gibt.
Welchen Einfluss hat der schneereiche Winter?
Der Winter 2023/24 war besonders schneereich. «In der Höhe liegt für die Jahreszeit noch überdurchschnittlich viel Schnee, der durch die Schneeschmelze zu erhöhten Abflüssen beiträgt», erklärt WSL-Forscherin Käthi Liechti auf Anfrage von blue news.
Ist die Alpensüdseite häufiger betroffen als der Norden?
An den vergangenen zwei Wochenenden waren verschiedene Orte auf der Alpensüdseite betroffen, neben dem Misox und Maggiatal auch das Oberwallis und das Chablais an der Mündung der Rhone in den Genfersee. Doch der Eindruck trügt, schreibt die WSL: «Der Süden ist nicht generell anfälliger. Es sind einfach insgesamt andere Verhältnisse. Auf der Alpensüdseite sind Bäche etc. an die grösseren Niederschläge, die Geschiebe wegräumen, gewohnt.»
An den beiden Unwetter-Wochenenden reichte das allerdings nicht mehr, um die verheerenden Murgänge zu verhindern.
Die grafische Darstellung der WSL zeigt zudem, dass keineswegs nur in Berggebieten Menschen in Unwettern sterben. Hochwasser fordern auch im Mittelland immer wieder Menschenleben.
Warum stehen Häuser in Erdrutschzonen?
Wenn vor Jahrzehnten oder noch früher gebaute Häuser von Erdrutschen getroffen werden, stellt sich die Frage, ob diese an diesen Orten überhaupt hätten gebaut werden dürfen. Umfassende Gefahrenkarten gibt es in der Schweiz erst seit zehn Jahren, in manchen Gemeinden auch erst seit fünf. «Diese müssen in jedem Fall nach einer bestimmten Zeit oder nach besonders grossen Unwettern auf ihre Gültigkeit überprüft und allenfalls aktualisiert werden.», schreibt die WSL dazu.
Die Zerstörungen im Maggiatal, in Saas-Grund oder im Misox könnten somit die Beurteilung der Gefahren verändern und dazu führen, dass in gewissen Gebieten niemand mehr wohnen darf.
Besteht im Mittelland keine Gefahr?
Klar, Erdrutschgefahr besteht nur dort, wo das Terrain steil genug ist. Doch schon an kleinen Erhebungen kann ein Hang ins Rutschen geraten. Die Karte der WSL zeigt jedoch, dass im Mittelland Menschen eher in Sturmböen ums Leben kommen.
Die Karte der WSL zeigt: Es gibt keine Region der Schweiz, in der noch niemand durch ein Naturereignis ums Leben gekommen ist. Im flachen Mittelland sind es aber eher Windstürme, Blitze und Überschwemmungen, die Menschenleben fordern.
Steinschlag, Erdrutsche und Lawinen gibt es da, wo das Terrain steil genug ist dafür. Wobei sich die Menschen im Mittelland nicht absolut sicher fühlen sollten. So kommt es auch an unscheinbaren Hügeln im Mittelland immer wieder zu Hangrutschen.