Moritz Leuenberger zum Katastrophen-Herbst 2001 «Hört denn das nie mehr auf?»

Von Alex Rudolf

3.10.2021

Moritz Leuenberger (SP/ZH) führte die Schweiz durch den Katastrophenherbst 2001.
Moritz Leuenberger (SP/ZH) führte die Schweiz durch den Katastrophenherbst 2001.
KEYSTONE/Peter Schneider

Im Katastrophen-Herbst 2001 war Moritz Leuenberger als Bundespräsident mit 9/11, dem Zuger Attentat, Gotthard-Inferno, Swissair-Grounding und Crossair-Absturz gefordert. Im Gespräch mit blue News erinnert er sich.

Von Alex Rudolf

3.10.2021

Herr Leuenberger, erinnern Sie sich noch daran, ob Sie im Herbst 2001 einen guten Schlaf hatten?

Moritz Leuenberger: Das war sicher eine belastende Zeit, aber meine Funktionsfähigkeit wurde nicht ausser Kraft gesetzt. Im Gegenteil: Ich war wacher und konzentrierter als in normalen Zeiten. Ich kann aber nicht wegdiskutieren, dass ich morgens jeweils angespannter war. Ich fürchtete stets, dass erneut etwas Schlimmes geschehen ist.  

Sie waren Bundespräsident im wohl tragischsten Herbst, den die Schweiz je erlebt hat. Den Anfang nahm er mit dem 11. September: Sie sassen in einer Sitzung im Uvek und erfuhren erst Stunden später von den Ereignissen in New York. Warum hat Sie niemand informiert?

Der Katastrophenherbst
Der Kantonsratsaal im Zuger Regierungsgebaeude, aufgenommen am Dienstag, 27. September 2011, in der Altstadt von Zug. Das Attentat vom 27. September 2001 im Zuger Kantonsrat jaehrt sich zum 10. Mal. (KEYSTONE/Urs Flueeler)
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Vor 20 Jahren häuften sich die Katastrophen. Neben den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September ereigneten sich auch einige in der Schweiz. Am 27. September tötete Friedrich Leibacher 14 Politiker*innen, indem er im Zuger Kantonsparlament wild um sich schoss.  Schliesslich richtete er sich selbst. Am 2. Oktober wurden zwei Swissair-Maschinen in London am Boden festgehalten, weil die Flughafen-Gebühren nicht bezahlt wurden. Später am Tag blieb die ganze Flotte am Boden, knapp 20'000 Passagier*innen sassen weltweit fest. Im November sprach der Bund rund zwei Milliarden für die Gründung einer neuen Fluggesellschaft, der Swiss. Am 24. Oktober kamen elf Menschen im Gotthard um, weil ein Lastwagen die Tunnelwand tangierte und anschliessend auf die Gegenfahrbahn geriet. Einen Monat später, am 24. November stürzte eine von Berlin kommende Crossair-Maschine im Zürcherischen Bassersdorf ab. Von den 33 Passagieren starben 24: Eine der Überlebenden ist die heutige Zürcher Nationalrätin Jacqueline Badran (SP).

Die Bundeskanzlei hatte das irgendwie verschlafen. Wir diskutierten dies aber im Anschluss und es kam in der Folge nie wieder vor.  

Sie traten bei den folgenden Katastrophen jeweils rasch vor die Medien: Wie sortierten Sie ihre Gedanken?

Ich versuchte die Ereignisse einzuordnen. Einerseits allein, aber andererseits auch gemeinsam mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern. Ich bereitete mich vor: Spontan und aus dem Bauch sollte man sich nicht an die Öffentlichkeit wenden.

Was wollten Sie der Schweiz jeweils mitteilen? Trost spenden? Ein «Es ist alles unter Kontrolle» vermitteln?

Letzteres sicher nicht. Von solchen Antworten wie «Wir haben alles unter Kontrolle», oder «Die Täter werden hart bestraft» hielt ich mich bewusst fern, da sie mir wie eine Schablone vorkamen. Ich wollte persönlich sein und mitteilen, was mir durch den Kopf geht. Beim Crossair-Absturz sagte ich beispielsweise: «Hört denn das nie mehr auf?» Dies mag eine sehr persönliche Reaktion gewesen sein. Aber viele Menschen empfanden so und fühlten sich daher auch abgeholt.

Wie fühlte es sich an, als Politiker keinen Verhandlungsspielraum, keine politische Macht zu haben, sondern nur zu reagieren?

Ein Bundespräsident repräsentiert die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Passiert ein Verbrechen oder ein Unglück, reagiert er. Mit Worten, das ist wichtig, aber auch mit politischen Massnahmen, die er bekannt gibt. Er ist also nicht ohnmächtig.

Seit Zug sind Parlamente besser beschützt. Hat das Attentat die Schweizer Demokratie sonst noch verändert?

In Zug wurde in der Folge beispielsweise eine Ombudsstelle eingesetzt, die sich derartigen Wutbürgern, die sich nicht ernst genommen fühlen, annimmt.  

Solche Wutbürger haben heute mit den Sozialen Medien ein grosses Mikrofon. Wie problematisch ist dies?

Ja, das ist ein Phänomen, mit dem sich die heutige Demokratie auseinandersetzen muss. Wird zu einem Sturm auf das Bundeshaus aufgerufen, muss man rechtzeitig reagieren. Dies ist erkannt und es wird auch danach gehandelt, denke ich.

Auch Sie erhielten Morddrohungen. Hatten Sie Angst?

Es ist zwar sehr bedrohlich, aber man muss mit den richtigen Massnahmen auf solche Drohungen reagieren. Es gab Zeiten, da stand ich unter Personenschutz. Meine Gepflogenheiten, wie etwa das Tram- oder Busfahren, liess ich mir aber nie nehmen – dies entgegen der Empfehlungen der Sicherheitsspezialisten. Lässt man sich zu stark von der Angst leiten, schränkt man sich auf ungesunde und unnatürliche Weise ein.

Auf Zug folgte das Swissair-Grounding: Der Bundesrat sei in die Luft gegangen, als er erfuhr, dass es von der UBS keinen Kredit für die Fluggesellschaft gebe. War der Bundesrat mit den Nerven am Ende?

Nein, das wäre eine unzulässige Schwäche. Als Mitglied einer Landesregierung ist man politischer Profi und ein Profi ist nicht am Ende mit den Nerven. Ungehaltenheit darf man hingegen zeigen.

Wie nahmen die Schweizer*innen das Grounding wahr? Die Swissair war schliesslich beinahe ein nationaler Schatz.

Ja, das war sie absolut. Die finanziellen Probleme waren nur eine Seite der Geschichte. Mit dem Swissair-Niedergang zerschellte auch die Identität vieler Schweizer und Schweizerinnen am Boden. Bei vielen Menschen pochten heimatliche Gefühle auf, wenn sie am Himmel das Schweizerkreuz sahen. Sie identifizierten sich mit der Swissair, was diese ja auch pflegte. 

Diente die Swissair auch Ihnen als nationale Identifikation?

Nein, ich sah dies leicht nüchterner, da ich schon lange zuvor mit den Verantwortlichen zu tun hatte. Das war eine private Aktiengesellschaft, die zum Beispiel vom einem Tag auf den anderen Genf als internationalen Hub strich. In der Führungsetage kümmerte man sich nicht sonderlich um den nationalen Zusammenhalt.

Und am 24. Oktober brannte es im Gotthard-Tunnel. Warum gingen Sie hier erst am nächsten Tag vorbei?

Es war zwar fürchterlich, aber eben doch nur ein Verkehrsunfall: Ich dachte, dass ich nur bei den Bergungsarbeiten stören würde. Dies war meine spontane Reaktion und sie war falsch. Besonders im Tessin fühlte man sich betupft, weshalb ich dann sehr rasch trotzdem an die Unfallstelle eilte.

Hat sich Ihre Beziehung zum Tessin seither verbessert?

Natürlich, es entstand keine nachhaltige Verstimmung. Ich besuchte die Unfallstelle mit dem damaligen Staatsrat Marco Borradori.

Sie verglichen die Lage am Gotthard nach dem Unfall mit Dantes Inferno. Erinnern Sie sich noch gut daran?

Es war sehr eindrücklich. Der Gotthard-Tunnel war ein rabenschwarzes Russloch, das mit ausgebrannten Autowracks gefüllt war. Jeder Katastrophen-Film mit Arnold Schwarzenegger zeigt weniger Zerstörung. Davor stand die Weltpresse, die spekulierte, es seien 90 Menschen gestorben, was sich als Fake News entpuppte – es waren elf.  

Nun, 20 Jahre später, jähren sich nicht nur all diese tragischen Ereignisse, es kommt auch zu einer Art Fortsetzung: Diese Woche fand der Spatenstich für die zweite Röhre statt. Ist es auch für Sie als ehemaliger Uvek-Vorsteher eine Erleichterung, dass Frontalkollisionen mit der Gegenfahrbahn nicht mehr möglich sein werden?

Sicher. Am Unfallort sagte ich bereits damals, dass ein solches Unglück mit zwei Röhren nicht passiert wäre. Dies, obwohl ich stets gegen die zweite Röhre war. Bei allen Dingen gibt es Pro- und Kontra-Argumente. Der Sicherheitsaspekt war ein starkes Argument für eine zweite Röhre. Aus verkehrspolitischen und aus verfassungsrechtlichen Gründen war ich aber dagegen.

Die zweite Fortsetzung sind die USA, die sich 20 Jahre nach 9/11 aus Afghanistan zurückgezogen haben. Sahen Sie das daraus folgende Chaos kommen?

Natürlich nicht. Was ich aber bereits damals festhielt, war, dass man Böses nicht mit Bösem vergelten sollte. Im Gegensatz zum Irak-Krieg war jener in Afghanistan immerhin von der internationalen Gemeinschaft legitimiert.

Im Herbst ihres Präsidialjahres war der Ausnahmezustand Realität. Vergleichbar ist dies mit den vergangenen beiden Corona-Präsidialjahren von Simonetta Sommaruga und Guy Parmelin. Welche Ratschläge hätten Sie den beiden gegeben?

Ich hüte mich davor, ihnen irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Zudem sind diese auch nicht notwendig. Oftmals wird kritisiert, dass dem Bundesrat die Instrumente fehlen, um plötzliche Krisen zu bewältigen. Die Reaktion auf das Grounding und der Aufbau der neuen Airline, die Finanzkrise mit der UBS 2008 und jetzt auch die Corona-Pandemie zeigen aber: Unser System und das Kollegium im Bundesrat sind fähig, solche Krisen zu meistern.

Dennoch: Während der Corona-Pandemie ist die Schweizer Gesellschaft mutmasslich gespalten. Wie würden Sie die Geimpften und Ungeimpften in einer Rede wieder zu einen versuchen?

Sie wollen ein Rezept, um diesen Graben zu überwinden?

Genau.

Hm. Eine Rede hält man nicht einfach aus dem Bauch heraus. Wichtig ist, dass man jeden Gegner, jede Gegnerin ernst nimmt. Denn auch in ihren Meinungen gibt es immer ein Korn Wahrheit. Deswegen muss man auf sie eingehen und sie nicht lächerlich machen. Was man aber nicht vergessen darf: An allererster Stelle steht der Schutz und die Gesundheit der Bevölkerung. Diese darf vor lauter Verständnis gegenüber Impfgegnern nicht geopfert werden. Deswegen ist zuweilen auch ein Machtwort nötig – Verständnis für Minderheitsmeinungen hin oder her. Jeder Pelz, den man wäscht, wird nass.

Die Regierung wirkte stets geeint. Diese Einigkeit litt in den vergangenen Monaten. Während eines Jahres sassen Sie 2010 gemeinsam mit Ueli Maurer in der Landesregierung. Er steht derzeit in der Kritik, weil er das Kollegialitätsprinzip verletzt habe. Wie schätzen Sie sein Verhalten ein?

Das Kollegialitätsprinzip ist ein zentrales Element unseres Systems. Sie muss geachtet werden. Natürlich haben Bundesräte unterschiedliche Auffassungen und es muss gegen aussen auch nicht der Eindruck entstehen, der Bundesrat sei ein Monolith. Man darf ihn aber auch nicht lächerlich machen. Der Auftritt im Trychler-Hemd war jenseits der Grenze des Kollegialsystems. Dafür wurde er auch ausgiebig kritisiert. Aber: Bei der finanziellen Hilfe leistete der Gesamtbundesrat hervorragende Arbeit. Es gibt nicht nur das Trychler-Hemd, sondern auch gute Leistungen.

Wie wären Sie als Bundespräsident mit einem solchen Kollegen umgegangen?

Ich hätte deutlich mit ihm gesprochen, aber nur zu ihm und nicht öffentlich. Das gehört eben auch zur Kollegialität.