Streit um Lehrmittel Klassenkampf auf dem Pausenplatz – oder doch bloss Medienpropaganda?

Philipp Dahm

18.9.2018

Der Ost-West-Konflikt ist lange vorbei, doch im Kopf so manches Journalisten geht das Gespenst des Klassenkampfes noch immer um und macht scheinbar sogar Schule.

Ein besetztes Haus in Zürich im Jahre 1973.
Ein besetztes Haus in Zürich im Jahre 1973.
Keystone

Wer die «NZZ» liest, bekommt den Eindruck, dass der Jugend in der Schule der Kopf verdreht statt mit Wissen gefüllt wird. «Manche Schullehrmittel sind mit politischen Parolen und Lobhudeleien durchsetzt», belehrt uns der Verfasser, der «proletarischen Pathos» ausgemacht haben will und kritisiert, dass «unverhohlen für politische Akteure und deren Anliegen» geworben werde: «Das antikapitalistische, klassenkämpferische Geraune zieht sich durch.»

Doch am Ende des Tages, pardon, des Artikels, geht es bloss um ein einziges Lehrmittel, das, so die Lesart der «NZZ», zum Klassenkampf in der Schule aufruft: Was den Autoren so auf die Palme bringt, ist «das neue Stufenlehrmittel für Geschichte und Politik auf der Sekundarstufe I» – es  heisst «Gesellschaften im Wandel» (GIW).

Von Experten konzipiert

Wenn das Unterrichtsmaterial tatsächlich «gewöhnliche politische Akteure» idealsiert, obwohl diese bloss «die Bevölkerung mit den üblichen Methoden zu beeinflussen versuchen», fragt sich der erschrockene Leser, wer das Machwerk verfasst haben könnte: Schleicht sich der schwarze Block über den Hinterhof in unsere Schulen?

1. Mai 1997 in Zürich: Der schwarze Block soll nicht Schule machen – aber das fordert ja auch niemand, oder?
1. Mai 1997 in Zürich: Der schwarze Block soll nicht Schule machen – aber das fordert ja auch niemand, oder?
Keystone

Das klingt bei der «NZZ» so, doch GIW ist vom Zürcher Lehrmittelverlag in Zusammenarbeit mit Pädagogen der Fachhochschule Nordwestschweiz und der PH Zürich sowie der PH Basel konzipiert worden. Die Lektorin Béatrice Ziegler gibt sich auf «NZZ»-Nachfrage ahnungslos.

Die Professorin für Geschichte und Geschichtsdidaktik denkt, im Schulbuch und auf der dazugehörige Online-Plattform würden strittige Punkte «ausgewogen dargestellt und im Rahmen des Machbaren relativiert».

Wo ist das Problem?

Aber was steht nun im GIW, das gewisse «politische Akteure» hochjubelt, obwohl diese «die Bevölkerung mit den üblichen Methoden zu beeinflussen versuchen»? In GIW werden Lehrer doch angehalten, ein «Spektrum an Meinungen und Argumenten sichtbar, nachvollziehbar und kritisierbar» werden zu lassen – worüber sich also der «NZZ»-Autor derart echauffiert, dass er am liebsten den eisernen Vorhang der Geschichte darüber werfen will?

Die Bildergallerie «Leben hinter dem Eisernen Vorhang»:

Voilà, diese Aussagen sind offenbar ein Problem:

• «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!»
• Frauen verdienen «20 Prozent weniger als ihre Arbeitskollegen».
• «Wer ohnehin schon viel hat, profitiert von der Globalisierung, wer dagegen nur wenig hat, gerät noch mehr unter wirtschaftlichen Druck.»
• Frauen «nehmen weniger Führungspositionen ein».
• NGOs «wollen eine Wirtschaft, in der nicht nur der Gewinn im Zentrum steht, sondern auch Mensch und Umwelt».
• Die Unia-Gewerkschaft «setzt sich für gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen ein».

GIW online: Politisches Zusammenleben ist für einige Rezipienten offenbar nicht möglich.
GIW online: Politisches Zusammenleben ist für einige Rezipienten offenbar nicht möglich.

Ein Schelm, wer Böses dabei fragt

Arbeitgeber kämen nicht zu Wort, klagt die «NZZ», während Organisationen wie Amnesty International und andere Vertreter der «Hilfswerk- und Menschenrechtslobby» ihre Thesen unter das scheinbar so unbedarfte Schulvolk bringen könnten. Das dürfte doch auch ein Aufreger bei der SVP sein, haben die Kollegen von «20 Minuten» wohl gedacht: «Propaganda am Schulen?», lautet leutselig die Frage in der Überschrift.

Und weil die eigene Nachfrage die SVP wie auch die FDP auf den Plan gerufen hat, lässt sich weiter titeln: «Lehrmittel sorgt für Streit». Indirekt werde zum «Klassenkampf» aufgerufen, ätzt die Zürcher SVP. «Ein politisch neutraler Unterricht ist so praktisch nicht möglich.» Der FDP-Nationalrat Beat Walti attestiert GIW «einen manipulativen Charakter».

Erhobener Zeigefinger gegen erhobene Faust oder aber: Manipulieren und gegen Manipulieren.
Erhobener Zeigefinger gegen erhobene Faust oder aber: Manipulieren und gegen Manipulieren.
KLeystone

Öffentlichkeitswirksam haben beide Parteien nun im Kantonsrat neutrale Lehrmittel gefordert – ein Ansinnen, dem vom Verlag bis hin zum politischen Gegner aber wohl auch niemand widersprechen würde.

Wenig überraschend meint dann auch Beat Schaller, das hier offene Türen eingerannt werden: «Neben Globalisierungskritikern kommen auch Globalisierungsbefürworter und neben Arbeitnehmer- auch Arbeitgeberverbände zu Wort», versichert der Leiter des Lehrmittelverlags Zürich.

Kein Fleisch am Fisch, äh, am Knochen

Gewerkschaften setzen sich nun mal für bessere Arbeitsbedingungen ein – ob gut oder nicht sei dahingestellt. Es ist unbestritten, dass Frauen weniger als Männern gezahlt wird – und über die Gründe dafür kann man auch trefflich streiten. Und wenn selbst das deutsche «Handelsblatt», das nicht gerade im Verdacht steht, die fünfte Kolonne Moskaus zu sein, schreibt, dass die Arm-Reich-Schere unverhältnismässig weit aufgegangen sei, ist alles gesagt, oder?

Vielleicht ist es weniger das Trommeln für das Comeback des Kommunismus, sondern politisches Poltern mit Pauken und Trompeten, das hier viel Lärm um nichts verursacht. Vielleicht verdienen Frauen unerklärlich nur 2,9 Prozent weniger, wie die «NZZ» behauptet – und vielleicht ist das Klima gar nicht so kaputt, wie dauernd kolportiert wird. Vielleicht gehört GIW wirklich auf den Scheiterhaufen der Geschichte, wie die SVP behauptet.

Und wenn sich der Rauch gelegt hat, ist Fisch vielleicht wieder Fisch, Fleisch womöglich auch wieder Fleisch, und niemand muss mehr vor dem Offensichtlichen die Augen verschliessen. Das wär doch auch mal was.

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