Abgewiesene Asylbewerber Wie es sich mit Nothilfe lebt – und wie die Aussichten sind

Von Valerie Zaslawski

18.12.2019

Asylsuchende, die eigentlich ausreisen müssten, werden in Notunterkünften untergebracht.
Asylsuchende, die eigentlich ausreisen müssten, werden in Notunterkünften untergebracht.
Bild: Keystone/Gian Ehrenzeller

Im Schweizer Asylsystem fallen Menschen zwischen Stuhl und Bank, kritisiert die Eidgenössische Migrationskommission. In der Nothilfe vegetierten sie vor sich hin, dürften weder bleiben noch ausreisen. Doch diese Einschätzung wird nicht von allen geteilt.

Lange Zeit ist es ruhig um die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) gewesen, doch nun übt sie scharfe Kritik. In einer am heutigen Mittwoch publizierten Studie mit dem Titel «Personen, die aus dem Asylsystem ausscheiden» bezeichnet sie das Schweizer Nothilfe-Regime als gescheitert. Aber von vorn.

Das Schweizer Asylgesetz soll Menschen, die auf Schutz angewiesen sind, diesen hierzulande auch tatsächlich garantieren. Seit das Gesetz 1981 in Kraft trat, wurde es immer wieder verschärft. Menschen, die nicht schutzbedürftig sind, müssen sobald wie möglich wieder ausreisen – ausser, ihre Ausreise ist nicht zulässig, nicht zumutbar oder technisch unmöglich. Dann werden sie vorläufig aufgenommen.

Seit dem Sozialhilfestopp, der im Jahr 2008 eingeführt wurde, erhalten ausreisepflichtige Personen nur noch Nothilfe. Diese Massnahme sollte den Leidensdruck erhöhen und die Betroffenen zu einer Ausreise bewegen. Mit der Ausrichtung von Nothilfe kommt die Schweiz lediglich noch ihrer humanitären Verpflichtung nach, wonach Menschen geholfen werden muss, die sich in Not befinden.

Die Betroffenen erhalten vom zuständigen Kanton in der Regel acht Franken pro Tag, eine Unterkunft und medizinische Grundversorgung. 2018 haben 7'846 abgewiesene Asylsuchende Nothilfeleistungen bezogen. Dies sind acht Prozent weniger als im Vorjahr, jedoch ungefähr dreimal so viele wie 2008 (2'401 Personen). Aktuell stammt mehr als ein Drittel der Nothilfebeziehenden aus den fünf Ländern Eritrea, Äthiopien, Algerien, Georgien und Irak.

Zu wenige vorläufige Aufnahmen

Die EKM bemängelt nun jedoch, dass es eine nicht zu vernachlässigende Gruppe von Menschen gäbe, die unter dem derzeitigen Regime zwischen Stuhl und Bank falle. Menschen nämlich, welche die Schweiz eigentlich verlassen müssten, dies aber wegen fehlender Papiere oder anderer Hindernisse gar nicht könnten.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sei viel zu zaghaft bei den vorläufigen Aufnahmen aufgrund technischer Vollzugshindernisse, bemängeln die Autoren der Studie. Dadurch nehme die Zahl jener, die während einem Jahr oder länger von Nothilfe leben müssten, zu. Die durchschnittliche Bezugsdauer pro Person stieg im vergangenen Jahr in der Tat um acht Tage auf insgesamt 145 Tage an. Insgesamt zählt die Statistik im letzten Jahr rund 4'300 Langzeitbeziehende, das sind 55 Prozent aller Menschen, die Nothilfe erhalten.

Die Situation der Langzeitbeziehenden wird von den in der Studie zitierten Experten verschiedener Fachstellen als äusserst prekär beschrieben. Demnach führe der «permanente Druck» verbunden mit einer «strukturell erzwungenen Passivität und Perspektivenlosigkeit» zu einer psychischen und physischen Zermürbung.

Viele der Nothilfebeziehenden litten unter der Isolation und entwickelten Depressionen. Besonders gefährdet seien Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind. Wer kann, taucht unter. Meistens gelingt dies Einzelpersonen, die in der Schweiz bereits über ein soziales Netzwerk verfügen. Doch ausgerechnet Familien mit Kindern könnten sich, so die Autoren, kaum aus den Nothilfe-Strukturen befreien.

Die EKM macht Vorschläge, wie sich die Situation verbessern liesse. Eine Möglichkeit wäre ein Ausweis für die Betroffenen, der die Illegalität des Aufenthalts aufhebt. Dies entspräche in etwa dem «Duldungsstatus», wie ihn beispielsweise Deutschland oder Österreich kennen. Zudem sollen abgewiesene Asylsuchende arbeiten dürfen, und – haben sie sich einmal hier integriert – eher bleiben dürfen.

Immer mehr Rückübernahmeabkommen

Der Bund lässt die Kritik allerdings nicht auf sich sitzen: Das SEM, das im Asylbereich federführend ist, rechtfertigt sich wie folgt: «Ist der Vollzug einer Wegweisung aus technischen Gründen nicht möglich, verfügt das SEM gemäss Artikel 83 AIG die vorläufige Aufnahme. Wenn dies nicht der Fall ist, ist davon auszugehen, dass sich die ausreisepflichtigen Personen bei den für sie zuständigen ausländischen Vertretungen melden können und Ersatzreisepapiere erhalten.»

Zahlen des SEM zeigen jedoch, dass die Behörde in den vergangenen Jahren tatsächlich kaum vorläufige Aufnahmen aufgrund technischer Vollzugshindernisse ausgesprochen hat. Es handelt sich um ein paar wenige Einzelfälle.

Daniel Bach, Leiter Kommunikation beim SEM, erklärt die niedrige Zahl an vorläufigen Aufnahmen wegen technischer Vollzugshindernisse auf Anfrage von «Bluewin» damit, dass immer mehr Länder Rückübernahmeabkommen haben mit der Schweiz. Die meisten vorläufigen Aufnahmen würden ausgesprochen, weil die Rückkehr nicht zulässig oder nicht zumutbar sei. Dies sei auch bei Eritrea der Fall. Das nordostafrikanische Land nimmt seine Bürger allerdings nur zurück, wenn diese freiwillig heimkehrten, was die meisten nicht tun. Zwangsausschaffungen sind nicht möglich.

Laut Bach erhalten die Menschen, die eigentlich ausreisen müssten, meist aus dem gleichen Grund keine Reisepapiere: wegen ihrer fehlenden Mitwirkung. Das begründe keine technische Unmöglichkeit des Vollzugs.

Rückenstärkung erhält das SEM von Marcel Suter, Präsident der Vereinigung der Kantonalen Migrationsbehörden. Auch Suter ist der Ansicht, dass die meisten abgelehnten Asylsuchenden nicht ausreisen wollten. Dennoch empfindet er insbesondere die Situation der Langzeitbeziehenden als unbefriedigend. Das Problem müsse gesamtschweizerisch angegangen werden. «Es braucht nicht 26 verschiedene Lösungen, aber es braucht eine Lösung.»

Politik muss Antworten finden

Die einigermassen widersprüchlichen Aussagen der involvierten Akteure werden sich letzten Endes wohl nicht ganz auflösen lassen. So sagt Co-Studienleiterin Sibylle Siegwart auf Nachfrage: «Ein Asylsuchender schätzt seine persönliche Notlage womöglich anders ein, als es das SEM tut. Der Betroffene ist demnach überzeugt, er könne nicht zurück, während die Behörden der Ansicht sind, er wolle nicht.»

Für Siegwart ist allerdings klar: «Wenn jemand unter diesen schikanösen Umständen bereit ist, in der Schweiz zu bleiben, müssen aus persönlicher Sicht äusserst starke Hindernisse gegen eine Rückkehr in das Herkunftsland sprechen.»

Nur in einem Punkt sind sich die meisten einig: Der Langzeitbezug von Nothilfe ist ein Problem – und dieses Problem kann nur durch eine politische Lösung beseitigt werden. So fordert die Basler Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne) diese Woche in einem Vorstoss tiefere Hürden für eine Integration in den Arbeitsmarkt sowie weniger restriktive Kriterien bei der Härtefallprüfung.

Ungleiche Behandlung von Asylsuchenden

Vorsichtige Bedenken in Bezug auf politische Lösungen äussert indes Gaby Szöllösy, Generalsekretärin der Sozialdirektorenkonferenz (SODK): «Dem Schweizer Asylgesetz liegt eine Werterhaltung zugrunde, wonach Schutz erhält, wer solchen benötigt und wonach gehen muss, bei wem dies nicht der Fall ist. Politische Lösungen bergen demnach die Gefahr, diese gesetzliche Basis zu unterminieren. Dies könnte den Rückhalt der Bevölkerung für die heutige Asylpolitik schwächen.»

Ein zynischer Funken Hoffnung bleibt bestehen, zumindest oberflächlich: Durch die Neustrukturierung des Asylbereichs und den beschleunigten Verfahren zeichnet sich laut SEM ab, dass mehr abgewiesene Asylsuchende – auch dank der Rückkehrhilfe des Bundes – freiwillig zurückkehren.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Die Zahlen zeigen aber auch, dass mehr Asylsuchende unkontrolliert abreisen, sobald sich abzeichnet, dass ihr Gesuch chancenlos ist. Für die Schweiz könnte sich das Problem der Langzeitbeziehenden dadurch also von ganz allein lösen. Die Asylsuchenden werden weiterziehen oder gleich von Beginn weg ihre Asylanträge in den Nachbarländern wie Deutschland oder Frankreich stellen, wo die Verfahren länger dauern.

Aus den Augen, aus dem Sinn. Das hat schon immer wunderbar funktioniert. Bis es eben nicht mehr funktioniert.

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