Attentate in der Schweiz? Asylsuchender soll mit Sozialhilfe IS-Anschläge finanziert haben

Von Jennifer Furer

3.9.2020

Weil ein Mann in der Schweiz als IS-Mitglied operiert haben soll, muss er sich vor Gericht verantworten.
Weil ein Mann in der Schweiz als IS-Mitglied operiert haben soll, muss er sich vor Gericht verantworten.
Keystone

Ein mutmassliches IS-Mitglied aus der Schweiz soll zu Selbstmordanschlägen aufgerufen und Terroranschläge geplant haben. Nun muss sich der Mann vor Gericht verantworten. 

Es ist nicht der erste Prozess gegen ein mutmassliches IS-Mitglied in der Schweiz, aber vielleicht der grösste: Ein 52-jähriger Iraker, der in einer Schweizer Asylunterkunft lebte, muss sich ab nächstem Mittwoch vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verantworten.

Die Bundesanwaltschaft wirft dem Mann vor, gegen das Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen AI-Qaìda und Islamischer Staat sowie verwandter Organisationen verstossen und sich an einer kriminellen Organisation beteiligt zu haben. Zudem soll er Gewaltdarstellungen gelagert und hergestellt sowie mehrfachen Betrug begangen und ohne Berechtigung ein Auto gelenkt haben.

Die Anklageschrift umfasst knapp 100 Seiten. «Bluewin» fasst die wichtigsten Punkte zusammen.

Wer ist der Beschuldigte?

Der Beschuldigte war laut der Staatsanwaltschaft ungefähr ab 2014, spätestens aber ab Mitte 2016 ein von der Schweiz aus operierendes Mitglied der verbotenen terroristischen Organisation Islamischer Staat (IS).

Der Mann lebte in einer Asylunterkunft und besuchte die umstrittene Winterthurer An’Nur-Moschee. Aus deren Umfeld sind laut dem «Tages-Anzeiger» neun Männer und drei Jugendliche nach Syrien gereist, um sich mutmasslich dem dortigen Terrorregime anzuschliessen.

Der Beschuldigte selbst agierte laut Staatsanwaltschaft von der Schweiz aus. Er habe die «Etablierung eines weltumspannenden Kalifats als staatsähnliches Gebilde, fussend auf den Grundpfeilern einer gewaltextremistischen, salafistisch-dschihadistischen Doktrin, deren fester Bestandteil die Legitimation des Einsatzes terroristischer Gewaltmittel bildet», zum Ziel gehabt.

Wie soll der Beschuldigte im IS eingebunden gewesen sein?

Der heute 52-jährige Beschuldigte soll in der Schweiz als IS-Mitglied Menschen für die Terrororganisation indoktriniert, rekrutiert und nach Syrien geschleust haben. Das wirft ihm die Bundesanwaltschaft vor. Zudem soll er den IS finanziell unterstützt und Kontakt zu ranghohen IS-Mitgliedern gepflegt und Anweisungen von diesen entgegengenommen haben.

Das Netzwerk des Beschuldigten soll aus IS-Mitgliedern in der Schweiz, in Syrien, im lrak, in der Türkei, im Libanon und in Finnland bestanden haben.

Der Prozess gegen den 52-jährigen Beschuldigten findet über drei Tage am Bundesstrafgericht in Bellinzona statt.
Der Prozess gegen den 52-jährigen Beschuldigten findet über drei Tage am Bundesstrafgericht in Bellinzona statt.
Keystone//Ti-Press/Alessandro Crinari

Laut der Staatsanwaltschaft hat der Beschuldigte innerhalb des IS gegenüber anderen, auch hochrangigen IS-Mitgliedern, eine Position der Autorität eingenommen. In dieser Position sei der Beschuldigte in der Lage gewesen, anderen, auch hochrangigen IS-Mitgliedern konkrete Anweisungen zu erteilen und von diesen je nach Bedarf Unterstützung anzufordern, so die Anklage.

In der Anklageschrift heisst es im Wortlaut:

«Er übernahm innerhalb des IS die Funktion eines Mitglieds, das von einem sicheren Zufluchtsort («safe haven») aus, der Schweiz, ohne von den Behörden entdeckt zu werden, Aktivitäten im Sinne der Zielsetzungen des IS entfaltet, was im Bedarfsfall auch die Anwendung von terroristischer Gewalt, namentlich die Planung, Koordination, Organisation oder die eigenhändige Begehung von Anschlägen einschliesst, und das sich, sobald sein Aufenthalt in der Schweiz nicht mehr opportun ist, physisch zum IS begibt, um dort in Ietzter Konsequenz unter Einsatz des eigenen Lebens gewaltsam für den IS zu kämpfen.»

Hat der Beschuldigte zu Selbstmordanschlägen aufgerufen?

Der Beschuldigte suchte über die sozialen Medien Kontakt zu einer im Libanon lebenden, verwitweten Frau, die IS-Mitglied gewesen sein soll. Laut der Staatsanwaltschaft soll er diese über Videotelefonie nach islamischem Recht geheiratet haben.

Die beiden sollen sich fortlaufend über den IS ausgetauscht haben. Der Beschuldigte hat die Frau laut der Staatsanwaltschaft in ihrer IS-Ideologie bestärkt. Er soll ihr Propagandamaterial geschickt haben.

Einmal soll er ihr ein Bild geschickt haben, auf dem eine verschleierte Frau zu sehen war, welche in der rechten Hand den von einem männlichen Torso abgetrennten Kopf in die Höhe hielt, im Hintergrund standen zwei Kinder. Dazu soll der Beschuldigte geschrieben haben: «Gott, schenke mir so eine Partnerin. Wenn ich weiss, dass es ein Mädchen wie diese Löwen-Frau gibt, werde ich gehen und um ihre Hand bitten (…).»

Die Frau habe dem Beschuldigten geschrieben, dass sie beabsichtige, eine «Märtyreroperation» durchzuführen. In einer Unterhaltung hat der 52-Jährige laut der Staatsanwaltschaft ihr die Erlaubnis erteilt und sie in ihrer Absicht bestärkt, einen Selbstmordanschlag im Namen des IS auf ein noch nicht näher bestimmtes Ziel im Libanon oder anderswo zu begehen.

Er habe ihr auch Handlungsanweisungen gegeben, in dem er als Ziele des beabsichtigten Selbstmordanschlages die «amerikanischen Kräfte» oder die «Partei des Teufels», die Hisbollah, vorschlug.

«So Gott will, der mächtige Gott wird es einfacher machen. Es scheint schon, dass wir beide gemeinsame Themen haben. Hahahaha, du hast Krieg, ich habe auch Krieg», soll der Beschuldigte seiner Frau geschrieben und sie somit weiter bestärkt haben.

Die Staatsanwaltschaft schreibt, dass die Begehung eines Selbstmordanschlages im Namen des IS von der Zustimmung und der Erlaubnis des Ehemannes abhängig sei, da nach ihrer religiösen Überzeugung die Ehefrau keine wichtigen Entscheide ohne das Einverständnis des Ehemannes treffen dürfe.

Die Frau sei schliesslich von libanesischen Streitkräften am 2. Mai 2017 verhaftet worden, so die Anklage, «bevor sie zur Ausführung eines Selbstmordanschlags schreiten oder das Land verlassen konnte».

Terroranschläge in der Schweiz geplant?

Am 10. August 2016 soll der Beschuldigte ein Dokument auf sein Handy geladen haben, das Wissen über Sprengstoff und Gifte für Anfänger enthalten haben soll, so die Anklage.

Beim 216-seitigen Dokument habe es sich um ein trainingsbasiertes Kursdokument des IS gehandelt, welches sieben Lektionen sowie Fragen- und Diskussionskapitel umfasst. Laut Staatsanwaltschaft richtet es sich ausdrücklich an Personen, die dschihadistisch motivierte Anschläge gegen westliche Länder begehen möchten.

Das Dokument beschreibe Gerätschaften und Ausgangsstoffe für die Sprengstoffherstellung sowie deren Beschaffungsmöglichkeiten. Zudem enthalte es Informationen zur Herstellung von unkonventionellen Spreng- und/oder Brandvorrichtungen und wie diese verwendet werden können, «namentlich splitterbildende Gegenstände sowie improvisierte Anzünder», heisst es in der Anklage.

Der Beschuldigte soll die umstrittene An'Nur-Moschee in Winterthur besucht haben. Diese wurde inzwischen geschlossen.
Der Beschuldigte soll die umstrittene An'Nur-Moschee in Winterthur besucht haben. Diese wurde inzwischen geschlossen.
Keystone/Walter Bieri

Im Dokument seien skizzenhaft Sprengstoffvorrichtungen beschrieben und bebildert, wie zum Beispiel eine Autobombe mit Benzinkanister- und Gasflaschenzuladung, welche durch ein Mobiltelefon zur Zündung gebracht wird.

Auf den 216 Seiten sollen zudem Ratschläge niedergeschrieben sein, wie man sich während des Kursstudiums zu verhalten hat, insbesondere in Bezug auf die Geheimhaltung, um der Entdeckung durch Angehörige und Behörden zu entgehen, «wobei es unter anderem alternative Beschaffungsmöglichkeiten für die benötigten Substanzen aufzeigt, um nicht aufzufallen».

Am 14. April 2017 soll der Beschuldigte eine Sprachnachricht eines IS-Führungsmitglieds erhalten haben. Laut Staatsanwaltschaft wies dieser den Beschuldigten an, «dort», also in der Schweiz, «andere Sachen» vorzubereiten, um Gottes Zufriedenheit zu erlangen und die Scharia durchzusetzen. Mit «andere Sachen» sind laut der Anklage terroristische Anschläge gemeint.

Der Beschuldigte habe darauf entgegnet, dass Gott ihn mit Güte belohnen möge, Gott möge ihn segnen für diese schöne Äusserung; so Gott wolle, mit Gottes Bewilligung, mit Gottes Erlaubnis. Dadurch habe der Beschuldigte die Anweisung zur Vorbereitung von terroristischen Anschlägen in der Schweiz zustimmend entgegengenommen.

Beschuldigter soll IS mit Sozialhilfegeld unterstützt haben

Immer wieder soll der 52-Jährige Transaktionen getätigt haben, um die Fortführung der terroristischen Aktivitäten des IS zu ermöglichen. Das wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor. So soll er zum Beispiel einem Empfänger in der Türkei knapp 3500 Franken überwiesen haben, um die Freilassung eines IS-Mitglieds aus der Haft zu ermöglichen.

Zudem wirft die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten vor, einen Mann finanziell unterstützt zu haben, der ein Selbstmordattentat mittels eines Busses plante.

Geld soll der Beschuldigte von einem Sozialamt erhalten haben, um mit «ausgerichteten Unterstützungsbeiträgen seinen Lebensunterhalt und nach Möglichkeit seine regelmässigen Unterstützungsaktivitäten für den IS zu finanzieren», so die Anklage.

Er habe «arglistig» Tatsachen vor dem Sozialamt vorgespielt, um an Geld zu gelangen, dass ihm nicht zugestanden sei. Er soll bei Besprechungen immer wieder verneint haben, über Einkünfte und Vermögen zu verfügen, was aber nicht gestimmt haben soll.

Da es sich beim Vermögen um Immobilien im Irak gehandelt haben soll, sei dies unmöglich nachzuprüfen gewesen. Zwischen Februar 2017 bis Mai 2017 soll er Unterstützung in der Höhe von knapp 4’400 Franken erhalten haben.

IS-Schläferzellen aufgebaut?

Der Beschuldigte soll laut Staatsanwaltschaft eine Frau angewiesen haben, «kurdische Brüder» zu organisieren und so eine IS-Schläferzelle aufzubauen. Hierfür soll der Beschuldigte sie angewiesen haben, einen Scharia-Kurs des IS zu absolvieren und den Aufbau von Schläferzellen zu erlernen, auch in Bezug auf deren räumliche Verteilung und die Erteilung von Aufträgen an diese zur Beteiligung im Sinne des Organisationsziels des IS, wozu insbesondere die Begehung von terroristischen Attentaten zähle.

Der Beschuldigte soll auch taktische Anweisungen an IS-Mitglieder in der Kampfzone gegeben haben. In diesen soll er Tipps gegeben haben, wie man einer Entdeckung durch die Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitskräfte entgehen kann. Laut Anklage gab er auch die Instruktion, wegen Bombardierungen von Positionen des IS einzeln im Freien zu schlafen und keine Mobiltelefone auf sich zu tragen, denn diese würden geortet.

Gewaltdarstellungen gespeichert und hergestellt?

Laut Staatsanwaltschaft hat der Beschuldigte mehrere Ton- und Bildaufnahmen gespeichert und weiterverbreitet, die verbotenen Gewaltdarstellungen enthalten haben sollen. So seien Bilder und Videos von Enthauptungen, Hinrichtungen durch Sprengsätze, Schusswaffen sowie Verbrennen und Videos von Misshandlungen sowie Verstümmelungen auf seinen Datenträgern gefunden worden.

Welche Strafe fordert die Staatsanwaltschaft?

Die Staatsanwaltschaft wird wie die Verteidigung des Beschuldigten ihre Anträge erst an der Hauptverhandlung kundgeben. Jedoch wird bereits aus der Anklageschrift ersichtlich, dass die Anklage fordert, dass die Verfahrenskosten teilweise dem Beschuldigten auferlegt werden sollen. Von insgesamt knapp 690'000 Franken soll der 52-Jährige knapp 327'000 Franken berappen.

Zudem hat die Staatsanwaltschaft beantragt, dass für den Beschuldigten bis am 15. Juli 2020 die Sicherheitshaft anzuordnen sei. Der Entscheid des Zwangsmassnahmengericht ist noch ausstehend. Der Beschuldigte sitzt seit dem 11. Mai 2017, also seit 1065 Tagen in Haft.

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