Keine freie Arztwahl «Das wird sich negativ auf die medizinische Versorgung auswirken»

Von Jennifer Furer

19.8.2020

Statt zum Arzt der Wahl sollen Patienten zuerst zu einer kantonalen Erstberatungsstelle. Das will Gesundheitsminister Alain Berset, um die steigenden Gesundheitskosten zu senken. Sein Vorhaben stösst auf Kritik.

Es ist ein heisses Eisen, das SP-Gesundheitsminister Alain Berset mitten in der Coronakrise anfasst: Am Mittwoch verkündet er in einer Pressekonferenz, dass die freie Ärztewahl eingeschränkt werden soll.

Statt zum Arzt der Wahl sollen künftig alle Patientinnen und Patienten zu einer kantonalen Erstberatungsstelle. Diese soll entscheiden, ob eine weitere Untersuchung oder Behandlung nötig ist. Berset will mit dem neuen System die stetig steigenden Gesundheitskosten in den Griff bekommen.

Der Gesetzesentwurf stösst auf Kritik – nicht nur bei den Ärztinnen und Ärzten.

Der Patient und die Patientin müssen Erstberatungsstellen auf einer kantonalen Liste auswählen. Zur Erstberatung zugelassen werden Hausärzte, Gruppenpraxen, telemedizinische Zentren oder Netzwerke zur koordinierten Versorgung. 
Der Patient und die Patientin müssen Erstberatungsstellen auf einer kantonalen Liste auswählen. Zur Erstberatung zugelassen werden Hausärzte, Gruppenpraxen, telemedizinische Zentren oder Netzwerke zur koordinierten Versorgung. 
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Monique Lehky Hagen, Co-Präsidentin der Konferenz der Kantonalen Ärztegesellschaften KKA ist schockiert, ob dem Vorhaben Bersets. Es attackiere eine fundamentale Qualität des jetzigen Systems: die freie Therapiewahl der Patientinnen und Patienten.

Die Walliser Ärztin kritisiert, dass sich der Vorschlag in eine über 30-jährige Tradition einreiht, mit immer mehr Kontrollen, Einschränkungen und Administration zur Senkung der Gesundheitskosten. «Damit konnten bisher keine relevanten Erfolge erzielt werden», so Lehky Hagen.

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Es sei stattdessen an der Zeit sinnvolle neue Versicherungsmodelle zu schaffen – mit wesentlich mehr Einfluss auf die Gesundheitskosten und ohne Qualitätseinschränkungen für den Patienten in Bezug auf seine Arztwahl.

«Einschneidender Qualitätsverlust»

Die Patienten und Ärzte seien sich zum Glück noch bewusst, dass medizinische Versorgung nicht einfach einen standardisiert-technischen Akt bedeutet.

Der beste Arzt der Welt werde einen Patienten, der ihm nicht vertraut, nicht zufriedenstellend behandeln können. «Medizin ist nicht da, um eine Gesundheitsindustrie oder politisch vorgegebene Standards zu erfüllen, die sich nach ökonomischem Wunschdenken richten», sagt Lehky Hagen.

Chronisch Erkrankte im Nachteil

Medizin sollte ethischen Grundsätzen folgend womöglich jedem Patienten die für ihn angepasste medizinische Versorgung in gegenseitigem Vertrauen anbieten können. «Das scheint leider immer mehr vergessen zu gehen.»

Sie ist deshalb überzeugt: «Kosten können gespart werden, wenn ich Patientinnen und Patienten behandle, die mir vertrauen, weil sie sich dafür freiwillig entschieden haben», so Lehky Hagen.

Wenn ein fremder Arzt nun über die weitere Behandlung entscheidet, die dem Patienten aber nicht passt, würde dieser eher einen zweiten Arzt aufsuchen. «Das kostet auch. Und zwar viel», so Lehky Hagen.

Die Walliser Ärztin Lehky Hagen befürchtet durch das neue Modell mehr Zweitkonsultationen – und diese kosten ebenfalls. 
Die Walliser Ärztin Lehky Hagen befürchtet durch das neue Modell mehr Zweitkonsultationen – und diese kosten ebenfalls. 
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Sie sagt, dass es zudem zu begrüssen wäre, wenn politische Vorschläge auf einer logischen Grundlage erarbeitet würden. «Es ist landläufig bekannt, dass 80 Prozent der Gesundheitskosten durch knapp 20 Prozent der Patienten generiert werden», so Lehky Hagen.

In der Schweizer Bevölkerung würden etwa 30 Prozent an chronischen Krankheiten leiden. «Der von Herrn Berset gemachte Vorschlag würde also bedeuten, dass gerade die chronisch-kranken Patienten nun durch eine neu geschaffene «all-fits-one»-Institution beurteilt werden müssten, bevor sie die für sie sinnvolle eigentlich schon aufgegleiste Behandlung in Angriff nehmen dürften.» Wie damit Kosten gespart werden sollten, scheine rätselhaft.

Volk soll entscheiden

Die Co-Präsidentin der Konferenz der Kantonalen Ärztegesellschaften findet es verfehlt, dass sich auf dieser Datenlage eine Behörde nun das Recht herausnimmt, Zwangsmassnahmen einzuführen.

Schliesslich schränke man mit den vorgeschlagenen autoritären Massnahmen eine wichtige persönliche Freiheit des Patientens willkürlich ein. «Deshalb finde ich, dass das Volk entscheiden soll, ob Bersets Vorschlag umgesetzt werden soll oder nicht und welche Medizin sie wollen», sagt Lehky Hagen.

FMH fordert Weniger administrativen Aufwand

Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, kurz FMH, ist ebenfalls nicht überzeugt ob dem von Berset vorgeschlagenen Modell. «Die Massnahmen werden negative Auswirkungen auf die medizinische Versorgung haben, welche Patientinnen und Patienten spüren werden, wenn diese so realisiert werden», schreibt die Verbindung in einer schriftlichen Stellungnahme.

Um Gesundheitskosten zu senken, schlägt die FMH alternativ beispielsweise vor, die administrative Belastung zu reduzieren. Diese habe bei berufstätigen Ärztinnen und Ärzten in den letzten 10 Jahren um täglich 30 Minuten zugenommen.

Santésuisse: Versicherte sollen wählen dürfen

Auch bei den Krankenkassen überzeugt Bersets Plan nicht. «Die Wahlfreiheit der Patienten ist ein zentraler Wert. Diesen sollte man nicht leichtfertig aufgeben», sagt Manuel Ackermann, Sprecher vom Krankenkassenverband Santésuisse.

Heute würden die Krankenversicherer den Prämienzahlenden bereits alternative Versicherungsmodelle zum Standardmodell anbieten, die einen Erstzugang zu medizinischen Behandlungen, beispielsweise mittels telefonischer Beratung, ermöglichen.

«Es sollte weiterhin möglich sein, dass der Versicherte das für ihn geeignete Modell wählt – selbstverständlich gegen entsprechende Prämienermässigung, beziehungsweise gegen Aufpreis», sagt Ackermann.

Das Modell von Berset mit einer Erstanlaufstelle könne zwar tatsächlich zu einer kostengünstigeren Versorgung beitragen. «Diese Aufgabe kann, muss aber nicht ein Arzt wahrnehmen.»

Santésuisse sei daher skeptisch gegenüber dem von Berset gewünschten Modell. «Wir werden den Vorschlag aber bezüglich der Auswirkungen auf die Patientinnen und Patienten sowie die Prämienzahlenden genau prüfen.»

Curafutura: «Administrativer Albtraum»

Auch der Krankenkassenverband Curafutura lehnt Erstberatungsstellen ab. Wie Santésuisse pladiert er auf die Weiterentwicklung und Förderung bereits funktionierender Modelle. Mit der Verpflichtung zur Erstberatung werde der mögliche Spielraum in der Entwicklung innovativer Versorgungsmodelle behindert. «Der Vorschlag des Bundesrats schwächt alternative Versicherungsmodelle, statt diese zu stärken», heisst es in einer Mitteilung.

Der präsentierte Vorschlag entmündige die Versicherten und missachte den Volkswillen: Die gesetzliche Pflicht wurde in der Managed Care Vorlage in einer Volksabstimmung 2012 bereits klar abgelehnt. «Eine zunehmende Verstaatlichung des Gesundheitswesens widerspricht den freiheitlichen Grundsätzen unseres Systems», so Curafutura. Der Verband wehre sich gegen unnötige Reformexperimente des Bundesrats und den damit einhergehenden administrativen Albtraum.

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