BundesgerichtPraxisänderung bei Beurteilung von IV-Renten wegen Depression
SDA
14.12.2017 - 14:14
Das Bundesgericht ändert seine Praxis zur Beurteilung der Rentenansprüche von Patienten mit psychischen Leiden. Die tatsächliche Arbeits- und Leitungsfähigkeit soll in Zukunft mit einem strukturierten Prüfverfahren abgeklärt werden.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erklärte sich erfreut, dass das Bundesgericht in zwei Urteilen seine Praxis geändert hat.
Gemäss bisheriger Rechtsprechung konnte ein Anspruch auf IV-Renten bei leichten bis mittelschweren Depressionen nur dann geltend gemacht werden, wenn diese Erkrankungen erwiesenermassen "therapieresistent" sind.
Das Bundesgericht hat nun seine Praxis revidiert, wie aus zwei am Donnerstag veröffentlichten Urteilen hervorgeht. Psychische Krankheiten liessen sich grundsätzlich nur beschränkt anhand objektiver Kriterien feststellen oder beweisen, begründet das Bundesgericht in einer Mitteilung diesen Schritt. Es sieht das alleinige Kriterium der Behandelbarkeit als weder sachlich geboten noch medizinisch abgestützt an.
Auch wenn die diagnostische Einordnung medizinisch notwendig sei, könne es damit aus juristischer Sicht nicht getan sein. Entscheidend sei die Frage der funktionellen Auswirkungen einer Störung. Bei deren Abschätzung stehe die Diagnose nicht mehr im Zentrum, weil daraus keine verlässliche Aussage über die Leistungseinbusse der Person gemacht werden könne.
Beweislast weiterhin bei Person
In Zukunft findet die Rechtsprechung, die für Schmerzstörungen ohne erklärbare Ursache entwickelt wurde, auf sämtliche psychischen Erkrankungen Anwendung. Der Entscheid über den Anspruch auf eine IV-Rente erfolgt nun in einem "strukturierten Beweisverfahren".
Dabei sollen diverse Indikatoren in die Betrachtungen einbezogen werden, um die Arbeitsfähigkeit abzuklären. Ziel ist es, das tatsächlich erreichbare berufliche Leistungsvermögen "einzelfallgerecht" zu beurteilen. Die versicherte Person trägt weiterhin die Beweislast.
Wichtige Indikatoren für den Schweregrad bleiben jedoch der Verlauf und Ausgang von Therapien. Medizinische Sachverständige müssten aufzeigen, weshalb trotz leichter bis mittelschwerer Depression und guter Therapierbarkeit der Störung im Einzelfall funktionelle Leistungseinschränkungen resultieren, die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken.
Neubeurteilung
Im ersten Fall hat das Bundesgericht über eine Frau geurteilt, die nach einem Burnout und einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik Anspruch auf IV geltend machte. Die IV-Stelle des Kantons Zürich lehnte den Antrag ab.
Das Sozialversicherungsgericht gab der Frau dagegen Recht, worauf die IV-Stelle mit einer Beschwerde ans Bundesgericht gelangte. Das Bundesgericht wies die Sache zur neuen Verfügung an die IV-Stelle zurück.
Im zweiten Fall gelangte ein 51-jähriger Mann ans Bundesgericht. Er bezog während mehreren Jahren eine IV-Rente. Nach einer Begutachtung und Aktenbeurteilung aus psychiatrischer Sicht verfügte die IV-Stelle des Kantons Aargau jedoch die Renteneinstellung. Das Bundesgericht entschied, den Fall an die Vorinstanz zurückzuweisen.
BSV fühlt sich bestärkt
"Das Bundesgericht bestärkt mit der Änderung seiner Rechtsprechung die Haltung des Bundesamtes für Sozialversicherungen", teilte das BSV mit.
Wichtig sei, dass bei Abklärungsverfahren nicht mehr allein die Diagnose ausschlaggebend sei, sondern die gesamte Lebenssituation einer Person beziehungsweise die Auswirkungen auf die Lebensumstände berücksichtigt werden sollen, sagte BSV-Vizedirektor Stefan Ritler der Nachrichtenagentur sda. Mit der neuen Rechtsprechung werde auch dem Grundsatz Eingliederung vor Rente Rechnung getragen.
2016 hat das BSV nach den Worten von Ritler 13'500 Neurenten gesprochen, 45 Prozent davon wegen psychischer Leiden, einschliesslich von Psychosen.
(Urteile 8C_841/2016 und 8C_130/2017 vom 30. November 2017)
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