Coronakrise Psychisch Erkrankte: «Ich versuche, zu überleben»

Von Jennifer Furer

24.3.2020

Das Coronavirus und die damit verbundene soziale Isolation können psychisch Erkrankte an ihre Grenzen bringen. Zehn Betroffene erzählen, wieso man sie jetzt nicht vergessen sollte. 

Ines (23) leidet an schweren Depressionen, Borderline, Bulimie, dissoziativen Störungen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.

«Ich lebe in einer teilstationären Wohngruppe und gehe normalerweise jeden Tag in eine Tagesstätte. Um 8 Uhr morgens werde ich abgeholt, um 16 Uhr wieder nach Hause gebracht. Wir kochen und essen zusammen, gehen einkaufen, spielen Gesellschaftsspiele oder basteln. Seit einigen Tagen fällt die Tagesstätte aus. Ich habe dadurch meinen Tagesrhythmus komplett verloren. Ich merke, dass sich Depressionen breit machen und meine Essstörung vermehrt auftritt. Während des Tages liege ich viel auf meinem Bett und tippe auf dem Handy herum. Seit einem Suizidversuch, nach dem ich neun Wochen im Koma lag, sitze ich im Rollstuhl.

Ich habe jetzt vermehrt Zeit, nachzudenken und habe oft schlechte Gedanken. Auch das Thema Selbstverletzung ist wieder präsent. Ich merke, dass mir die Ablenkung fehlt, die ich in der Tagesstätte habe. Ich habe Angst vor der kommenden Zeit und dass ich wieder in eine akute Krise komme.

Eigentlich hätte ich Anfang April eine Traumatherapie beginnen können. Diese wurde wegen der aktuellen Situation verschoben. Ich habe Angst, dass ich wieder in eine Klinik muss, weil sich mein Zustand verschlechtert. Denn dann müsste ich vielleicht meinen Therapieplatz abgeben, weil ich als Akutpatientin nicht aufgenommen würde. Der Druck ist momentan sehr hoch.

Ich möchte den Menschen gerne sagen, dass sie sich an die Regeln halten sollen. Denn je besser wir das machen, umso schneller geht die Krise vorbei.»


Stefi (32) leidet an Borderline und ADHS.

«Ich fühle mich beengt und verloren. Mir fehlt die Struktur, die ich vor dem Ausbruch der Coronakrise hatte. Diese war durch mein 100-Prozent-Beschäftigungsprogramm in einem Holzbetrieb gegeben. Die Struktur ist meine Leitplanke, ohne diese wird es schwierig.

Im Moment taste ich mich an die Situation heran. Es ist ein Kampf. Ich probiere morgens den Wecker zu stellen und mir ein Tagesprogramm zurechtzulegen, sodass ich nicht einfach in den Tag hineinlebe. Es fällt mir aber schwierig, mich zu beschäftigen. Besonders, wenn es um meine Selbstfürsorge geht. Bei mir dreht sich vieles um Leistung und alles, was ich mache, muss wertvoll sein. Es fällt mir schwer, etwa ein Buch zu lesen, das nur meiner Entspannung dient.

Ich habe Bezugspersonen, mit denen ich in Kontakt stehe und auch meinen Psychologen kann ich telefonisch erreichen. Die Sprechstunde hat dadurch aber niemals dieselbe Qualität, wie wenn sie persönlich geschieht.

Mir bereitet momentan grosse Sorgen, dass sich die Corona-Krise länger hinziehen könnte. Es ist nicht abschätzbar, wann sie endet. Je mehr ich in Isolation lebe, desto schlimmer wird mein Zustand. Es ist beängstigend und ich fühle mich alleine.

Mir helfen aber Gespräche mit anderen Betroffenen. Meine Mutter beschäftigt sich schon sehr lange mit meiner Krankheit. Aber sie wird mich niemals so verstehen können, wie es Leute tun, die in derselben Situation sind wie ich.»


Nicky (33) leidet an einer Persönlichkeits- und Angststörung und posttraumatischen Belastungsstörung sowie an Depressionen.

«Ich fühle mich sehr einsam, obwohl ich nicht alleine wohne. Dass ich nicht mehr herausgehen darf, zerrt an mir. Normalerweise arbeite ich als Alltagsbetreuerin. Aufgrund häuslicher Quarantäne bin ich aber momentan krankgeschrieben.

Es ist eine grosse Herausforderung momentan, den Tag zu bewältigen, ohne dass ich in ein Loch falle. Am Anfang fand ich die Situation noch nicht so schlimm, aber inzwischen macht es mir Angst. Ich merke meine Depression und meine Verlustangst sehr stark. Ich versuche momentan zu überleben und irgendwie mit der jetzigen Situation klarzukommen.

Ich versuche mich – so gut es geht – mit Putzen, Filme schauen und Zeichnen abzulenken. Am Abend, wenn ich zur Ruhe komme, ist es allerdings extrem schwierig, weil ich mir meiner Traurigkeit und Ängste wieder umso bewusster werde.

Am liebsten würde ich jetzt meine Freunde und meine Grossmutter besuchen. Ich habe aber Kontakt mit ihnen per Telefon – das ist besser als gar nichts.»


Dominique (37) leidet an einer chronifizierten somatoformen Funktionsstörung. Diese äussert sich in Stuhlinkontinenz und Inkontinenz sowie starken Unterleibsschmerzen. Zudem wurden bei Dominique eine chronifizierte ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung, Panikattacken und rezidivierende (immer wiederkehrende) Depressionen diagnostiziert.

«Die jetzige Lage bedeutet für mich ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits herrscht Angst vor einer Ansteckung. Dass meine Mutter momentan in der Krebstherapie und somit eine Hochrisikopatientin ist, macht es für mich nicht einfacher. Meine Frau arbeitet zudem in einer Migros-Filiale. Momentan habe ich nicht wirklich viel von ihr, da sie permanent am Anschlag läuft.

Ich bin Hausmann und kümmere mich so gut es geht um den Haushalt, um die Wäsche und um unsere Tiere. Zusätzlich lese ich viel und versuche mich weiterzubilden. Den Rest der Zeit verbringe ich mit meinen Hobbys wie 3D-Druck, Basteln und ab und zu einem Computerspiel. Zudem fahre ich meine Mutter zu den Bestrahlungen und Chemotherapien, gehe für sie und auch für meine älteren Nachbarn einkaufen und unterstütze sie bei Online-Erledigungen.

Das Coronavirus bereitet mir grosse Sorge, da meine Frau sich täglich durch ihre Arbeit im Detailhandel anstecken könnte. Ich habe Angst um meine Mutter, die durch eine Ansteckung sterben könnte.

Die Situation mit der Isolation nehme ich nicht als grössere Belastung wahr als sonst auch. Als psychisch Erkrankter bekommst du das täglich zu spüren. Kollegen wenden sich ab, und Familienmitglieder können mit der Situation nicht umgehen.»


Claudia leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen.

«Ich bin momentan stationär in einer psychiatrischen Klinik und fühle mich isoliert, alleine, nicht dazugehörend. Bevor ich krankgeschrieben wurde, war ich Integrationshelferin in einer Grundschule.

Durch das Coronavirus haben sich meine Ängste verstärkt. Ich habe grosse Verlustängste und mache mir Sorgen, meine Familie zu verlieren. Ich bin permanent angespannt, habe Heulanfälle und Nervenzusammenbrüche.

Ich versuche mich abzulenken, durch Fernsehen, Handy oder Spaziergänge mit anderen Patienten. Vier Stunden in der Woche habe ich Therapie bei einer Psychologin. Vor und nach der Stunde ist Desinfizieren angesagt.

Damit das Coronavirus nicht in der Klinik grassiert, dürfen keine Besucher ins Haus. Der Kontakt zwischen Patienten wird aufs Minimum reduziert. In die Aufzüge dürfen nur noch drei statt zwölf Leute. Das Mittagessen wird in einen Behälter abgefüllt, es gibt keine offenen Esswaren.

Ich würde mir wünschen, dass die Massnahmen nicht so strikt wären und dass beispielsweise kontrollierte Spaziergänge für uns organisiert würden, auf denen die Abstände eingehalten werden. In der Klinik herrscht momentan zu fest das Klima, dass wir Angst haben müssen.»


Sonja (31) leidet an einer Multiplen Persönlichkeitsstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung.

«Eine meiner ersten Ängste war, dass ich Probleme bekomme, wenn ich während einer Ausgangssperre eine dissoziativen Fugue (Anm. d. Red.: plötzliches, unerwartetes und zielloses Weglaufen einer Person ohne objektiv feststellbaren Grund) bekomme. Ich habe das mit meiner Hausärztin und der Spitex besprochen. Im Notfall könnte ich deren Nummer angeben.

Sorgen bereitet hat mir auch mein geplanter stationärer Aufenthalt in einer Klinik. Ich hatte Angst, dass dieser wegen des Coronavirus nicht klappt. Die leitende Ärztin hat mir aber gesagt, dass sie überzeugt ist, dass alles klappt.

Mein Alltag hat sich durch das Ausbreiten des Coronavirus fast nicht verändert. Allerdings habe ich noch weniger Sozialkontakte, und meine Hausärztin fällt erstmal als ‹Anlaufstelle› weg. Meine Therapie und Spitex laufen aber glücklicherweise wie gewohnt weiter.

Ich hoffe, dass psychisch Erkrankte während der Coronakrise nicht noch mehr in den Hintergrund geschoben werden als eh schon. Man sollte diese jetzt besonders ernst nehmen, auch die Ängste und Sorgen, die für andere vielleicht als ‹banal› gelten. Eine psychische Erkrankung kann tödlich sein.»


Julia leidet an Depressionen, Borderline, Panik- und Angstattacken, einer bipolaren Störung und einer Autoimmunerkrankung.

«Ich habe Angst. Angst vor dem, was passiert, Angst davor, wie es weiter geht, Angst, meine Familie zu verlieren und Angst, am Coronavirus zu erkranken. Die Ungewissheit lähmt mich und wirkt sich stark auf meine Gesundheit aus.

Ich habe momentan starke Stimmungsschwankungen, Herzrasen, Beklemmungsgefühle und fange wegen jeder Kleinigkeit an zu weinen. Meine Panikattacken werden häufiger und schlimmer. Ich hatte sie die letzten Jahre gut im Griff. Seit dem Virus werden sie leider stärker.

Ich bin momentan bei meiner Mutter, vermisse meinen Mann dadurch sehr. Das ist auch der Grund, warum ich derzeit nicht in eine Klinik möchte: Dort hätte ich noch mehr das Gefühl, von meiner Familie abgeschottet zu sein.

Ich warte seit zwei Jahren auf einen Therapieplatz. In Zeiten des Coronavirus würde ich mir wünschen, dass Psychologen Telefon- und Sprechstunden online anbieten – egal ob man ein aktueller Patient ist oder nicht.»


Saskia (29) leidet an starken Depressionen, einer posttraumatischen Belastungsstörung und Borderline.

«Wie ich mich derzeit fühle, kann ich nicht richtig sagen. Das Durcheinander ist sehr kompliziert für mich. Meine psychischen Zustände überlasten mich, teilweise so stark, dass ich alles blockiere ausser meinen Kindern. Ich mache zu Hause das, was ich noch schaffe: kochen, putzen und meine Kinder belustigen.

Ich würde derzeit gerne in meine Gruppentherapie gehen. Das kommt leider nicht infrage. Vom Krankheitsbild her würde ich auch sehr gerne einen Klinikaufenthalt machen. Durch das Virus ist dies momentan nicht so einfach. Die Hilfe, die man sonst bekommt, kann so gar nicht angeboten werden – eben beispielsweise Gruppentherapien. Ich würde mich derzeit auch nicht freiwillig in Situationen begeben, wo ich mich anstecken könnte.

Mich würde es beruhigen, wenn die Leute das Virus ernster nehmen würden und einfach mal ihren Egoismus hintenan stellen würden.»


Mona leidet an einer Essstörung und rezidivierenden Depressionen.

«Grundsätzlich fühle ich mich gut, aber auch allmählich genervt – es gibt kein anderes Thema mehr als das Coronavirus. Mein Zustand hat sich nicht verschlechtert. Ich bin durch meine Arbeit als Erzieherin und in einem Supermarkt stark ausgelastet.

Zum Glück ist mein Alltag ebenfalls nicht gross von den Massnahmen tangiert. Ich mache das, was ich sonst auch immer tue. Etwas Positives habe ich aus der Situation ziehen können: Durch das viele Händewaschen musste ich mir Handcreme besorgen. Nun habe ich das als kleines Ritual zum Entspannen entdeckt.»


Nancy (30) leidet an Borderline und Panikattacken.

«Bis jetzt fühle ich mich noch ziemlich gut, auch wenn ich merke, dass sich eine innere Unruhe breit macht. Ich stehe morgens wie gewohnt auf und mache mich dann fertig, um einen ‹normalen› Arbeitstag im Homeoffice zu beginnen.

Auch wenn ich weiss, dass die jetzige Situation wieder vorbeigeht, beschäftigt mich vor allem die Angst, wie es in den nächsten Tagen weiter geht, da meine psychischen Probleme meistens dann stärker werden, wenn mein Alltag nicht mehr geregelt ist oder ich mich nicht mit anderen Menschen treffen kann, um mich abzulenken.

Noch hat sich mein Zustand nicht extrem verschlechtert, aber die Panikattacken sind schon deutlicher zu spüren, als wenn es mir gut geht. Das Schwierigste für mich ist es, nonstop alleine in der Wohnung zu sein, ohne andere Menschen Face-to-Face zu sehen. Mir hilft es, mit Freunden zu schreiben und telefonieren.

Ich appelliere an die Menschen: Meldet euch besonders jetzt einfach mal bei den Menschen, die ihr kennt und von denen ihr wisst, dass sie mit psychischen Erkrankungen kämpfen. Zu hören ‹ich bin für dich da› ist oft schon eine grosse Hilfe.»

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