Alte Frau geschändet «Sexualisierte Gewalt im Altersheim kann täglich passieren»

Von Jennifer Furer

22.8.2020

Martina Böhmer, Expertin für geriatrische Psychotraumatologie, empfiehlt traumatische Erlebnisse in einer Patientenverfügung festzuhalten.
Martina Böhmer, Expertin für geriatrische Psychotraumatologie, empfiehlt traumatische Erlebnisse in einer Patientenverfügung festzuhalten.
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Ein 43-jähriger Pfleger missbraucht eine demente Frau im Altersheim. Kein Einzelfall, sagt die ehemalige Altenpflegerin Martina Böhmer. Warum sexualisierte Gewalt in Pflegeeinrichtungen täglich vorkommen kann und wieso alle Männer die Kostenfolgen übernehmen sollen, sagt sie im Interview.

Frau Böhmer, ein 43-jähriger Pfleger hat im Juni in St. Gallenkappel SG eine Frau mit Demenzerkrankung geschändet. Das regionale Newsportal ‹Linth24› machte die Vergewaltigung publik. Ein Einzelfall?

Nein, sexualisierte Gewalttaten an alten Frauen in Altersheimen können täglich passieren. Ich vermute, dass dies den Menschen nicht bewusst ist, weil die meisten Fälle nicht publik werden.

Zur Person
zVg

Martina Böhmer ist ehemalige Altenpflegerin, Expertin für geriatrische Psychotraumatologie und  Beraterin in der Altenhilfe.

Wieso nicht?

Pflegeeinrichtungen fürchten negative Folgen. Und es würde bedeuten, dass die betroffenen Einrichtungen Konsequenzen ziehen müssten.

Passiert dies nach einer sexualisierten Gewalttat nicht so oder so?

Nein, in den wenigsten Fällen.

Warum nicht?

Weil das Unsicherheiten schürt, sowohl bei den Mitarbeitenden, bei den Bewohnerinnen und Bewohnern und deren Angehörigen. Man müsste sich zudem eingestehen, dass sexualisierte Gewalt an alten Frauen existiert, dass man den Umgang mit Betroffenen überdenken und neue Strukturen entwickeln muss, um dem Problem zu begegnen. Dieses Eingeständnis passiert wenig, eben weil sexualisierte Gewalt tabuisiert wird – in Altersheimen, aber auch in der Gesellschaft allgemein.

Wieso ist sexualisierte Gewalt an Frauen ein Tabuthema?

Weil es mit Scham behaftet ist. In der Gesellschaft ist die Meinung vorherrschend, dass eine Betroffene selbst schuld ist, wenn es zu einer sexualisierten Gewalttat kommt. Ausserdem werden alte Frauen belächelt, wenn sie einen sexuellen Übergriff oder eine Vergewaltigung publik machen. Man schenkt ihr keinen Glauben, nimmt sie nicht ernst. Es fallen mitunter Sprüche wie ‹Das hätte sie wohl gerne›.

Auch, wenn sich alte Frauen an weibliches Personal wendet?

Ja, auch dann. Hier kommt noch hinzu, dass Pflegerinnen vielleicht selbst von häuslicher Gewalt betroffen sind – und das Thema daher ebenfalls tabuisieren.

«Donald Trump erlaubt sich alles – und bleibt trotzdem an der Macht.»

Wie kann das Tabu gebrochen werden?

Indem sexualisierte Gewalt als Thema in die Gesellschaft getragen und diese sensibilisiert wird. Es ist aber ein langer Weg, ein gesellschaftliches Umdenken zu erzielen. Auch, weil das Thema für bedrohlich ist – vor allem für die Täter, von denen es viele gibt. Die Gesellschaft scheut zudem davor, diese zu benennen.

Wieso?

Weil sie in den meisten Fällen aus dem persönlichen Umkreis stammen. Das will man nicht wahrhaben, weshalb man nicht darüber spricht. Würde man das Thema sexualisierte Gewalt enttabuisieren, würden zudem ganze Macht-Systeme zusammenbrechen.

Wie meinen Sie das?

Schauen wir Donald Trump an. Dieser Mann erlaubt sich alles – und bleibt trotzdem an der Macht. Auch dank Frauen, die ihn wählen. Und das, obwohl die MeToo-Bewegung so viel Aufmerksamkeit auf das Thema sexualisierte Gewalt gelenkt hat.

Mir scheint, als sei bei MeToo sexualisierte Gewalt an alten Frauen wenig thematisiert worden.

Jede Debatte um sexualisierte Gewalt vergisst ältere, beeinträchtige, pflegebedürftige oder chronisch kranke Frauen.

Warum?

Es passt nicht ins Bild. Das vorherrschende Bild in der Gesellschaft ist, dass junge, attraktive Frauen von sexualisierter Gewalt betroffen sind.

«Man kann ja nicht jeden Tag zu jeder Zeit neben einer alten Frau sitzen und schauen, dass sich niemand an ihr sexuell vergeht», sagt Martina Böhmer.
«Man kann ja nicht jeden Tag zu jeder Zeit neben einer alten Frau sitzen und schauen, dass sich niemand an ihr sexuell vergeht», sagt Martina Böhmer.
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Wieso vergehen sich Täter an alten Frauen?

Es geht immer um Macht, Dominanz und um die Unterdrückung der Frau. Dort, wo das Machtgefälle am grössten ist, passieren am meisten sexualisierte Gewalttaten. Darum erleben Frauen mit Beeinträchtigungen nochmals mehr sexualisierte Gewalt als Frauen ohne Beeinträchtigungen.

Wenn man das weiss: Wieso versagen in Altersheimen und Pflegeeinrichtungen Überwachungsmechanismen?

Wie will man in diesen Institutionen eine Überwachung denn sicherstellen? Man kann ja nicht jeden Tag zu jeder Zeit neben einer alten Frau sitzen und schauen, dass sich niemand an ihr sexuell vergeht. Das ist kaum umsetzbar. Zumal die Täter nur selten Fremdtäter sind, sondern Angestellte und Angehörige.

Heisst das, man kann nichts gegen sexualisierte Gewalt in Altersheimen machen?

Doch natürlich. Indem die Menschen im Umfeld von alten Frauen sensibilisiert werden, damit sie Anzeichen für sexualisierte Gewalt erkennen und sie stoppen können. Durch eine erhöhte Sensibilität wird einem zudem bewusst, dass man alten Frauen zuhören und sie ernst nehmen muss. Nur so kann ihnen nach einer sexualisierten Gewalttat richtig geholfen werden.

Wird den alten Frauen nach einer sexualisierten Gewalttat heute zu wenig geholfen?

Ja, eben weil sexualisierte Gewalttaten verschwiegen werden, werden sie nicht als Ursache für ein bestimmtes Verhalten erkannt. Wenn sie denn doch bemerkt werden, ist die Unterstützung oftmals nicht angemessen.

Wieso?

Wenn eine alte Frau sich plötzlich ‹komisch› verhält, fällt die Reaktion meist so aus, dass man dies als Verwirrtheit abtut. Gerade bei alten Frauen mit der Diagnose oder der Erkrankung Demenz wird eine Verhaltensänderung als Teil der Erkrankung gesehen – und eben nicht als das, was es ist: Eine (Re-)Traumatisierung durch sexualisierte Gewalt, die auch als solche behandelt werden muss.

«Es kann sein, dass die Frau in ihrem Leben oral vergewaltigt wurde und es nicht erträgt, etwas in den Mund geschoben zu bekommen.»

Die Möglichkeit besteht, dass die alten Frauen von selbst auf eine sexualisierte Gewalttat aufmerksam machen.

Das ist nicht so einfach. Gerade wenn eine alte Frau an Demenz leidet. Man befindet sich in einer Ohnmachtssituation. Andere Menschen bestimmen zunehmend über einen, die eigene Kontrolle wird immer weniger. Frauen mit einer Demenzerkrankung können sich vielleicht weniger gut artikulieren – und wenn sie es denn tun, werden sie meist kaum ernst genommen. Das nützten Täter aus.

Mühe, sich zu artikulieren und das Problem zu benennen, haben wahrscheinlich nicht nur Frauen mit einer Demenzerkrankung.

Nein. Gerade alte Frauen haben in einer Zeit gelebt, in der sie nicht gelernt haben, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Vergewaltigung beispielsweise ist erst sehr spät als Straftatbestand eingeführt worden. Alte Frauen finden oftmals schlicht keine Worte, um zu sagen, was ihnen widerfahren ist.

Alles in allem bedeutet die fehlende Artikulation der Betroffenen, dass Angehörige oder eben Mitarbeitende im Altersheim und in Pflegeeinrichtungen geschult werden müssen, um sexualisierte Gewalt zu erkennen und adäquat reagieren zu können?

Das ist essenziell. Eine Ausbildung zur Traumafachberatung gehört in die Ausbildung vom Pflegepersonal. Das passiert heute noch nicht. Nehmen wir ein Beispiel: Eine alte Frau schlägt den Löffel weg, wenn jemand ihr diesen zum Mund führt. Wenn die pflegende Person genug auf das Thema sensibilisiert ist, erkennt sie, dass es sich bei diesem Verhalten nicht unbedingt um eine Essensverweigerung handelt.

Sondern?

Es kann durchaus sein, dass die Frau in ihrem Leben oral vergewaltigt wurde und es nicht erträgt, etwas in den Mund geschoben zu bekommen. Anstatt diese Frau mit dem Löffel zu füttern, könnte die pflegende Person ihr den Löffel in die Hand geben und der alten Frau dabei helfen, selber zu essen.

Wenn ich als Angehörige das Gefühl habe, etwas läuft nicht, wie es sollte, wie spreche ich das am besten an?

Das Ansprechen bei einem Verdacht ist äussert schwierig. Man will schliesslich niemanden zu Unrecht als Täter hinstellen. Es kommt auf die Situation an, wie man das Thema zur Sprache bringt. Wichtig ist aber, dass man es thematisiert.

Wie?

Eine Möglichkeit ist, dass man zusammen mit dem mutmasslichen Täter ins Zimmer der alten Frau geht. Es ist wichtig, dass diese dabei ist. Sie sieht so, dass sie nicht alleine ist und dass die mögliche sexualisierte Gewalt an ihr erkannt wird.

Und dann?

Dann gilt es, die eigenen Wahrnehmungen zu benennen. ‹Ihre Frau lässt sich nicht mehr anfassen, nachdem Sie zu Besuch waren.› oder ‹Meine Oma reagiert distanziert, nachdem sie von Ihnen gepflegt wurde.› Wichtig ist, dass man nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt und sagt, dass man einer Vergewaltigung oder Belästigung ausgeht. Das kann kontraproduktiv sein.

Was kann ich tun, wenn ich beispielsweise meine Mutter in ein Pflegeheim einziehen lassen muss, sie aber vor sexualisierter Gewalt schützen will?

Sprechen Sie das bei der Suche nach einer passenden Einrichtung an. Man könnte die Heimleitung fragen, ob traumasensibel gearbeitet wird. Aufgrund der Antwort, wissen Sie bereits, ob die Einrichtung auf das Thema sensibilisiert ist oder nicht.

«Die Coronakrise stellt für viele alte Menschen eine besondere Herausforderung dar», sagt Martina Böhmer.
«Die Coronakrise stellt für viele alte Menschen eine besondere Herausforderung dar», sagt Martina Böhmer.
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Was ist, wenn ich weiss, ich habe sexuelle Gewalttaten erlebt und werde irgendwann die Dienste eines Altersheims beanspruchen. Wie gehe ich vor?

Ich rate jeder Frau, in einer Patientenverfügung festzuhalten, wenn sie eine Erfahrung mit sexualisierter Gewalt gemacht hat. Zudem sollte man aufschreiben, welche Behandlung durch die Pflege man sich wünscht und ob man die Pflege männlicher Mitarbeiter verträgt. Sollte es zu einer unangemessenen Behandlung kommen, hat man etwas zur Hand, auf das man sich stützen kann. Und: Die Einrichtung, in die Sie ziehen, weiss, worauf geachtet werden muss.

Das schützt aber nicht vor einer sexualisierten Gewalttat oder einer unangemessenen Behandlung.

Nein, aber es ist ein Schritt in Richtung Enttabuisierung des Themas. Man ist zudem nicht darauf angewiesen, dass das Pflegepersonal von sich drauf kommen muss, wieso man in einer gewissen Situation so reagiert, wie man es eben tut. Durch ein schriftliches Festhalten der eigenen Lage, weiss die Pflege von Anfang an Bescheid. Was sie daraus machen, steht einzig in deren Macht.

Es gilt also die Devise, dass man das Bestmögliche getan hat, um die eigenen Bedürfnisse vor einer Altersheimeinweisung anzumelden – auch für den Fall, dass man es irgendwann nicht mehr kann?

Genau. Die Pflege ist schliesslich eine Dienstleistung. In der Patientenverfügung sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass man als zahlende Person auf das Recht besteht, so gepflegt zu werden, wie man es möchte.

Gerade in der Coronakrise wird einem bewusst, dass die soziale Kontrolle nicht immer gegeben ist. Betroffene sexualisierter Gewalt werden weniger erkannt und vielleicht auch vermehrt isoliert. Wie nehmen Sie das wahr?

Die Coronakrise stellt für viele alte Menschen eine besondere Herausforderung dar. Ängste und Traumata aus der Vergangenheit kommen wieder vermehrt auf. Ich bin überzeugt, dass es alten Menschen derzeit körperlich und psychisch schlechter geht als vor der Coronakrise. Gerade in einem solchen Kontext ist es umso wichtiger, hinzuschauen – und jene Menschen zu schützen, die es besonders brauchen.

Vermehrt wird bei sexualisierter Gewalt auf die Arbeit und Behandlung von Tätern gesetzt. Was halten Sie davon?

Das ist ein Ansatz. Ich bin dafür, dass man noch einen Schritt weitergeht und die Krankenkassenprämien für Männer erhöht. Behandlungen von Traumatisierungen aufgrund sexualisierter Gewalt sind kostenintensiv.

Ist es nicht verfehlt, alle Männer für Taten zu belangen, die einzelne begangen haben?

Es handelt sich eben nicht um einzelne Männer, die sexualisierte Gewalt ausüben. Wir stehen hier vor einem strukturellen Problem. Es ist Fakt, dass sexualisierte Gewalt grossmehrheitlich und überwiegend von Männern begangen wird.

Die Verursacher müssen also zur Kasse gebeten werden?

Wenn es um Geld geht, lassen sich Probleme einfacher lösen. Zudem werden heute schon aufgrund des Geschlechts Versicherungsangebote festgelegt. Wenn ich ein Auto fahren will, das vorwiegend Männer fahren, muss ich mehr für die Versicherung bezahlen. Grund: Männer bauen mehr Unfälle. Um die Kosten dieser zu decken, müssen alle, die dieses Automodell fahren, dafür aufkommen.

Der Verein Paula e.V. mit der Geschäftsführerin Martina Böhmer betreibt in Köln die erste und bisher einzige Beratungsstelle zur Traumafachberatung für Frauen ab 60, die Gewalt /Traumata erlebt haben oder aktuell erleben in Deutschland. Hier geht’s zur Website. Sie hat zudem zwei Bücher zum Thema veröffentlicht. Eine Literaturliste finden Sie hier.

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