ReportageSo erlebte ein Opfer des Gammelhaus-Besitzers den Prozess
Von Jennifer Furer
1.7.2020
Heute Mittwoch musste sich der Besitzer der Zürcher Gammelhäuser vor Gericht verantworten. Eindrücke von einem Mann, der fast 60 Menschen über den Tisch gezogen hat – so auch Andreas Widmer.
Selbstbewusst läuft ein grosser, schlanker Mann in dunkelblauem Poloshirt und Jeans ins Hauptgebäude des Bezirksgerichts Zürich. Seine Haare hat er nach hinten gegelt, die schwarzen Leder-Loafer sehen wie neu aus.
Auf den ersten Blick würde ein Beobachter kaum erkennen, dass dieser adrett erscheinende Mann irgendetwas mit den drei Gammelhäusern im Zürcher Langstrassenquartier zu tun hat, geschweige denn, dass er der ehemalige Besitzer der drei Liegenschaften ist.
Als Schandfleck von Zürich sorgten diese 2015 schweizweit für Schlagzeilen. In ihnen lebten Menschen in prekären Verhältnissen, die sich in ihren eigenen vier Wänden tagtäglich einer Gesundheitsgefahr aussetzen mussten.
Der Winkelried der Problemhäuser
Einer der Bewohner war Andreas Widmer. Der «Tages-Anzeiger» betitelte ihn auch schon als den mutigsten Mann von Zürich. Er lebte zehn Jahre lang im Gammelhaus an der Neufrankengasse 6. Der einstige Bahnpostbeamte wurde als Winkelried in den Problemhäusern bekannt.
Auch am Mittwoch machte Widmer seinem Namen alle Ehre. Als der wohlhabend erscheinende Ex-Besitzer der Gammelhäuser das Gebäude betritt, sitzt der Sozialhilfebezüger, der als Nebenkläger auftritt, bereits auf einer Bank vor dem Gerichtssaal. Er scheint aufgeregt, aber nicht eingeschüchtert.
«Da ist er, das ist der Beschuldigte», sagt er zur Journalistin neben ihm. «Ja, ich habe dafür gesorgt, dass seine Taten ans Licht kommen», meint Widmer stolz. Immer wieder habe er die Drogendealerinnen und -konsumenten in die Schranken gewiesen. «Es ging so weit, dass ich mit dem Messer angegriffen wurde», erinnert sich Widmer. «Einmal versuchte ein Junkie, gar meine Haustür abzufackeln.»
Widmer wehrt sich, ruft die Polizei und gelangt an die Politik. Bis Ende 2016 die Gammelhäuser geschlossen werden. Jetzt, fast vier Jahre später, will Widmer wie 58 andere ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner Schadenersatz.
Zu wenig Platz für Widmer?
Nur wenige haben sich am Mittwoch vor Gericht eingefunden – über die Gründe kann nur spekuliert werden. «Ich glaube, viele müssen arbeiten oder kommen aufgrund ihrer nicht so guten Deutschkenntnisse nicht ans Gericht», meint Widmer.
Der Prozess stösst aber anderweitig auf grosses Interesse – Journalistinnen und Journalisten aller renommierten Medienhäuser finden sich nach und nach vor dem Gerichtssaal ein. Es sind so viele, dass eine Mitarbeiterin des Gerichts kurzerhand eine Schachtel mit Gesichtsmasken zückt und an die Anwesenden verteilt.
Bei den Privatklägern angekommen, sagt die Mitarbeitende, dass es vielleicht nicht genug Platz für alle hat. Enttäuschung breitet sich auf den Gesichtern aus. «Jetzt bin ich extra gekommen. Hoffentlich klappt's trotzdem», nuschelt Widmer mit leiser Stimme.
Aus dem Gerichtssaal dringt eine bestimmende Stimme. Es ist jene von Gerichtspräsident Sebastian Aeppli. Höchstpersönlich platziert er die Beschuldigten, deren Verteidiger, die Staatsanwaltschaft und die Medienschaffenden im Gerichtssaal. «Es ist halt alles etwas schwieriger während Corona», entschuldigt er sich.
Beschuldigter gibt sich selbstbewusst
Im Türrahmen taucht plötzlich Widmer auf, die Platzverhältnisse sehen gut aus – ganz hinten in der Ecke nimmt er Platz. Der Beschuldigte widmet ihm beim Vorbeigehen keines Blickes. «Das hat mich nicht gestört. Hauptsache, er wird gerecht bestraft», sagt Widmer später dazu.
Der Prozess beginnt zackig. Anklageschrift durchgehen, dann die Befragung des Beschuldigten. Bereits vor der Verhandlung hat er sich schuldig bekannt und einem Urteilsvorschlag der Staatsanwaltschaft zugestimmt. Trotzdem und gerade deswegen muss er sich nun den Fragen stellen, die der Richter noch hat.
Auf den Armen gestützt, steht der Beschuldigte hinter einer Plexiglasscheibe direkt vor Aeppli.
«Sie haben immer noch eine eigene Immobilienfirma?»
«Ja.»
«Sie verdienen pro Monat etwa 14’000 Franken?»
«Ja.»
«Über wie viel Vermögen verfügen Sie?»
«Puh, etwa 30 bis 40 Millionen.»
Der ehemalige Gammelhaus-Besitzer beantwortet die Fragen emotionslos und bestimmt – ja, selbstbewusst. Erst, als der Richter ihn auf seine Kinder anspricht, lächelt der Mann zum ersten Mal. Dann wieder:
«Anerkennen Sie Ihre Schuld?»
«Ja.»
Sind Sie aus freiem Willen heute mit dem Urteilsvorschlag einverstanden?»
«Ja.»
Nach dem Gammelhäuser-Besitzer müssen auch die zwei weiteren Angeklagten, die ehemalige Verwalterin, eine zierliche Frau mit zusammengebundenen blonden Haaren, und der stämmige Hauswart vor Gericht aussagen. Auch sie bekennen sich schuldig.
Wenig überraschend fällt das Urteil des Gerichts aus. 24 Monate bedingte Freiheitsstrafe für den Gammelhäuser-Besitzer. Zudem muss der Beschuldigte seinen Opfern rund 390'000 Franken Schadenersatzansprüche zurückzahlen.
Die ehemalige Verwalterin kassiert eine bedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten, der Hauswart eine bedingte Freiheitsstrafe von 24 Monaten. Beide müssen – wie der vormalige Besitzer – Schadenersatz und die Verfahrenskosten bezahlen.
Während die drei Beschuldigten mit emotionslosem Gesicht so schnell wie möglich aus dem Gerichtssaal huschen, nimmt der Sozialhilfebezüger Widmer das Urteil freudig zur Kenntnis.
«Ich bin sehr froh über das Urteil – und dass dieses Kapitel endlich fertig ist. Und natürlich auch, dass der Besitzer endlich seine Strafe erhält», sagt Widmer und begibt sich lächelnd aus dem Gebäude. Ziel ist seine neue Wohnung in Zürich – die nicht zu vergleichen sei mit seiner alten Bleibe.
Luxuswohnungen in Ex-Gammelhaus
Die Stadt Zürich hat alle drei ehemaligen Gammelhäuser gekauft und saniert. An der Neufrankengasse sind Wohnungen für Randständige und Drogenabhängige entstanden.
44 Menschen sind bereits eingezogen. Wie Sozialvorsteher Raphael Golta (SP) an einer Medienkonferenz sagte, werden die Bewohner rund um die Uhr von Fachpersonal überwacht. Es gehe darum, die psychische Verfassung und den Drogenkonsum im Auge zu behalten.
Auch die Liegenschaft an der Magnusstrasse wird umfassend saniert – und einem gehobenen Klientel zur Verfügung gestellt.
Die ursprüngliche Struktur soll mit einer 3-Zimmer-Wohnung oder einer Gewerbenutzung mit einer Fläche von 60 Quadratmetern im Erdgeschoss und je einer rund 80 Quadratmeter grossen 4-Zimmer-Wohnung auf jedem der fünf Obergeschosse wieder hergestellt werden.
Die Wohnungen werden auf der Basis der Kostenmiete vermietet. Gemäss heutigen Berechnungen kosten die grossen Wohnungen durchschnittlich 2’580 Franken netto pro Monat.