Höchste Alleinstehende im Interview «Viele glauben, dass Singles auf irgendeine Weise komisch seien»

Von Alex Rudolf

23.12.2021

Höchste Alleinstehende im Interview: «Viele glauben, dass Singles auf irgendeine Weise komisch seien»

Höchste Alleinstehende im Interview: «Viele glauben, dass Singles auf irgendeine Weise komisch seien»

Für viele Singles wird die Weihnachtszeit zur Belastungsprobe. Sylvia Locher vom Verein Pro Single Schweiz erklärt, warum das so ist, was man dagegen tun kann und welche Ungerechtigkeiten gegenüber Singles sie aus der Welt schaffen will.

22.12.2021

Sylvia Locher ist die höchste Single-Frau der Schweiz. Sie erzählt, was den Alleinstehenden an den Weihnachtstagen zu schaffen macht. Und wo es Ungerechtigkeiten zwischen Singles und Paaren gibt.

Von Alex Rudolf

23.12.2021

Frau Locher, die Weihnachtszeit ist besinnlich und viele verbringen diese Tage mit der Familie. Haben Singles ein Problem damit?

Es ist eine spezielle Zeit für Singles, das merke ich durchaus. Die meisten legen Wert darauf, die Festtage gut zu organisieren und zu wissen, wo sie wann sein werden. Verallgemeinern lässt sich dies aber nicht. Es gibt nicht den einen Typ Single-Mensch. Ich beispielsweise freue mich darauf, für die nächsten zwei Wochen nichts abgemacht zu haben.

Während der Weihnachtszeit wird das Familienleben auch idealisiert, sei dies in TV-Spots, Filmen oder Musik.

Zur Person

Sylvia Locher ist seit sieben Jahren Präsidentin des Vereins Pro Single Schweiz, Mitglied ist sie seit über 26 Jahren. Bevor sie in den Ruhestand trat, arbeitete die 65-Jährige in Non-Profit-Organisationen als Geschäftsführerin wie auch als Bewegungstherapeutin. «Anderen war die Familie wichtig, mir die berufliche Vielfalt», sagt sie. Locher lebt in Wädenswil ZH.

Da gebe ich Ihnen recht. Die Familie wird generell als heile Welt inszeniert, die für alle Personen erstrebenswert ist. Jede*r sollte eine Familie oder eine Partnerschaft haben, wird angedeutet. Wenn ich dies beobachte, denke ich, dass in diesen Werbungen und Filmen oft nicht gezeigt wird, welche Probleme es in Familien und Partnerschaften gibt.

Familien, die Wirtschaft, Arbeitnehmer, Arbeitgeber: Sie alle haben eine politische Vertretung. Warum gelangen die Anliegen der Singles nur harzig auf das politische Parkett?

Das ist schwierig zu sagen. Noch bis vor wenigen Jahren wurde in den Medien beinahe gar nicht über die Interessen der Alleinstehenden berichtet. Dies hat sich gewandelt und unter anderem an Weihnachten, am Singles Day oder am Valentinstag klopfen viele Journalist*innen an. Das ist wichtig.

Dennoch werden die rund 1,3 Millionen Menschen in Ein-Person-Haushalten fast nicht gehört.

Das liegt hauptsächlich an der Politik. Im National- und Ständerat sind zirka drei Viertel der Mitglieder verheiratet oder leben in einer Partnerschaft. Vor diesem Hintergrund ist es logisch, dass diese Parlamentarier*innen einen anderen Blick haben als Single-Menschen. Was hinzukommt, ist eine gewisse gesellschaftliche Wertehaltung. Viele glauben, dass Singles auf irgendeine Weise komisch seien. Etwas stimme nicht, wird gemutmasst. Das ist viel zu einseitig.

Pro Single hat knapp 500 Mitglieder. Der Beziehungsstatus kann sich jedoch rasch ändern. Verlieren Sie Mitglieder, sobald diese jemanden kennenlernen und eine Partnerschaft eingehen?

Ja klar gibt es Leute, die austreten, wenn sie jemanden kennengelernt haben. Wir haben aber auch zahlreiche Mitglieder, die seit vielen Jahren dabei sind, auch wenn sie zwischenzeitlich nicht mehr Single waren. Diese Menschen finden, dass man die Ungleichbehandlung von Alleinstehenden beseitigen muss. Und grundsätzlich lässt sich schon sagen, dass wir alle potenzielle Singles sind. Jede*r kann plötzlich allein dastehen, ob gewollt oder ungewollt.

Welches sind die grössten Nachteile, die Singles heute erfahren?

Generell sind wir bei den Sozialversicherungen schlechter gestellt als Menschen in Familien. Wir leisten viele Solidaritätsbeiträge, die wir nicht vergütet bekommen, wie beispielsweise die Witwenrente. Generell sind Familien in den Sozialversicherungen in irgendeiner Weise mitversichert. Dafür bezahlen diese Menschen aber nicht mehr, haben aber etwas Zugute, das wir Singles nicht zugute haben.

Und auch bei den Steuern stellen wir eine Ungerechtigkeit fest. Oftmals wird argumentiert, dass Alleinstehende keine Heiratsstrafe erdulden müssen. Fakt ist aber, dass Alleinstehende den höheren Tarif zahlen. Rund die Hälfte der Menschen mit Kindern entrichten keine Bundessteuern, da es viele Möglichkeiten für Abzüge gibt. Bei den Kinderlosen müssen praktisch alle Bundesssteuern bezahlen.

Aber Familien benötigen doch dieses Geld, da Kinder viel kosten.

Das allein ist kein Argument. Kinderkriegen ist eine persönliche Entscheidung, die wir wertschätzen. Aber Familien werden an jeder Ecke unterstützt: sei es durch Steuerkürzungen, Sozialversicherungen, Aktionen beim Einkaufen oder gar bei der Wohnungsvergabe. Als Single ist es beinahe unmöglich, an eine günstige Genossenschaftswohnung zu gelangen.

Ein Jurist klagt gegen die Rundfunkgebühr, die Serafe erhebt. Das Argument: Die Abgabe wird pro Haushalt entrichtet und nicht pro Person, was Alleinstehende viel teurer zu stehen kommt.

Ja, das ist richtig. Die ersten Instanzen lehnten die Klage ab, wir berichten laufend darüber. Für den Kläger steht aber fest, dass er den Fall weiterziehen wird – erst ans Bundesgericht und danach noch weiter, wenn es sein muss. Eine von uns in Auftrag gegebene juristische Abklärung ergab, dass die Serafe-Gebühr tatsächlich nicht korrekt ist. Weil die Praxis aber seit Jahren so gehandhabt wird, ist sie gemeinhin akzeptiert.

Viele Leute kommen auf Sie zu und sagen, dass es sich nur um rund 300 Franken handle und dass es nicht so schlimm sei.

Ich erwidere dann, dass es ums Prinzip geht. Zugegeben fällt der Einzelfall nicht stark ins Gewicht, doch in unserem System zahlen Singles grundsätzlich mehr als Paare und Familien und das muss man hinterfragen. Die Frage lautet: Wollen wir eine Gerechtigkeit schaffen oder nicht? Geht es nach uns, müssen die Kinder bei der Erhebung der Serafe nicht miteingenommen werden. Aber jeder Erwachsene sollte zumindest einzeln zur Kasse gebeten werden.

Könnte dies auch als Egoismus ausgelegt werden? Immerhin basiert in unserer Gesellschaft vieles auf Solidarität.

Für uns ist sonnenklar, dass wir einen Beitrag an die Gesellschaft leisten. Wir bezahlen für das Gesundheits- und das Bildungswesen, dagegen sagt niemand etwas, denn wir zahlen selbstverständlich für die nächste Generation. Was wir aber nicht wollen, ist für zwei Generationen zahlen zu müssen. Mit unseren Steuern finanzieren wir nämlich auch ganz viele Kosten, die hier und heute beim Modell Familie entstehen.