Experte zu gekaperten Chatgruppen Das suchen Islamisten in Botanik-Chats und bei Tiny-House-Freunden

Von Philipp Dahm

2.9.2021

Ungebetene Besucher – gekaperte Botanik-Gruppe.
Ungebetene Besucher – gekaperte Botanik-Gruppe.
BHild: blue News

Islamisten haben nicht nur eine Botaniker-Gruppe, sondern auch Mikrohaus-Freunde auf Telegram vereinnahmt. Ein Experte spricht über die Absichten der Online-Hassprediger.

Von Philipp Dahm

Die Fanatisierung geschieht oft dort, wo sich Fundamentalisten physisch treffen – so wie im Fall des islamistischen Cluster in Winterthur.

Doch auch religiös Rückwärtsgewandte müssen mitunter nach vorn schauen: Gerade die muslimische Gemeinde ist global gesehen grossteils jung – und internet-affin.

Kein Wunder also, dass Islamisten die Online-Kanzel für sich entdeckt haben: Johannes Saal vom Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik der Universität Luzern beobachtet den Online-Auftritt von Dschihadisten und erklärt, wie diese Social-Media-Plattformen für ihre Zwecke nutzen.

Islamisten kapern harmlose Telegram-Gruppen: Kommt so was häufig vor?

Bisher sind mir nur Einzelfälle bekannt. Neben dem von Ihnen geschilderten Fall der Botanik-Gruppe habe ich noch von einem weiteren gehört, der ähnlich ist. Es ging dabei um eine Seite für tiny houses, auf der dschihadistische Propaganda geteilt wurde.

Suchergebnisse für tiny houses by Google: Mit Extremisten-Propaganda rechnet ein Fan von Kleinstwohnräumen wahrscheinlich nicht.
Suchergebnisse für tiny houses by Google: Mit Extremisten-Propaganda rechnet ein Fan von Kleinstwohnräumen wahrscheinlich nicht.
Screenshot: Google

Nutzen andere extreme Gruppen Telegram auch so wie die Islamisten? Gibt es so etwa Faschismus-Bots?

Ich selber forsche vor allem zum Dschihadismus, deshalb kann ich nicht adäquat vergleichen. Aber man kann generell sagen, dass Extremisten das Internet verstärkt zur Verbreitung von Propaganda nutzen.

Was ist das Ungewöhnliche im Fall der Botaniker-Gruppe?

Es ist interessant, wie sich diese Leute adaptieren und schauen, welche technischen Möglichkeiten es gibt, Sperrungen oder Löschungen etwa durch Social-Media-Unternehmen zu umgehen.

Wie wichtig ist das Internet für deren Propaganda?

Das Internet ist für Extremisten wie ja auch für alle Menschen eine Möglichkeit, Informationen relativ weit zu streuen und ein grosses Publikum zu erreichen. Telegram ist für sie in den letzten Jahren vor allem wegen der verschlüsselten Kommunikation interessant geworden, aber auch, weil Telegram lange Zeit zurückhaltender war, wenn es darum ging, extreme Inhalte zu löschen.

Wer die vielen jungen Muslime erreichen will, muss auch online um sie werben. Im Bild: Kinder in einer Moschee im syrischen Idlib.
Wer die vielen jungen Muslime erreichen will, muss auch online um sie werben. Im Bild: Kinder in einer Moschee im syrischen Idlib.
Archivbild: KEYSTONE

Ist das überall so?

Extremisten sind auch auf anderen Plattformen aktiv, aber das war auf Facebook oder Twitter bis 2015 deutlich grösser und öffentlicher. Dann sind die Unternehmen relativ stark gegen solche Inhalte vorgegangen, und die Klientel hat zu Telegram gewechselt, wo die Bedingungen einfach besser sind, um lange aktiv zu sein. Das heisst nicht, dass dort kein Inhalt gelöscht wird, aber es geschah in der Vergangenheit langsamer.

Warum übernehmen die Islamisten eigentlich Telegram-Gruppen?

Ich vermute, dass dieses Kapern von Gruppen eine «Innovation» ist, um die Löschung von Inhalten auf Telegram zu umgehen.

Mitglieder lassen sich in der Botaniker-Gruppe ja wahrscheinlich nur schwerlich rekrutieren …

Ich habe mich auch gefragt, was die Intention dabei ist. Die Leute in dieser Gruppe sind ja nicht das Publikum, das man ansprechen möchte. Eigentlich richtet sich die dschihadistische Propaganda sehr direkt an ein bestimmtes Zielpublikum. Das merkt man an der Aufmachung mit teilweise viel Einfluss aus der Popkultur und der Professionalisierung.

Und warum dann die Botanik-Gruppe?

Es ist nur eine Vermutung, aber es wäre denkbar, dass so Material archiviert und mit Hashtags zugänglich werden soll. Aber man muss erst einmal sehen, wie sich das weiterentwickelt, und ob das ein Phänomen ist, bevor man über die Intention urteilen kann.

Social Media als Crowd-Archiv für Extremisten: Propaganda-Video des so genannten IS mit dem gefangenen britsichen Journalisten David Cawthorne Haines aus dem Jahr 2014.
Social Media als Crowd-Archiv für Extremisten: Propaganda-Video des so genannten IS mit dem gefangenen britsichen Journalisten David Cawthorne Haines aus dem Jahr 2014.
KEYSTONE

Wie sind solche Leute denn bisher vorgegangen?

Leute, die so ein Gedankengut verbreiten wollen, eröffnen eigentlich eine offene oder geschlossene Gruppe, um dort zu posten, was sie posten wollen. Und die, die potenzielles Interesse haben, folgen diesen Gruppen.

Dienen die neuen Gruppen dazu, Interessierte anzulocken?

Das glaube ich nicht. Im Fall der Tiny-House-Gruppe ist die Mitgliederzahl nach der Löschung der Inhalte fast identisch geblieben, wie man anhand von Screenshots sehen kann. Für mich sieht es so aus, dass diese Gruppen einfach nur als Plattform genutzt werden – mit welcher Intention auch immer.

Johannes Saal
ZVG

Johannes Saal arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik an der Universität Luzern. Er hat an der Universität Potsdam studiert und in der Innerschweiz seine Master- und Doktor-Arbeiten über religiösen Extremismus  gemacht.

Unter Botanik- oder Hausfreunden dürften diese Videos vor allem Angst machen. Ist das gewollt?

Es mag diesen Nebeneffekt haben, aber ob das gewollt ist, ist eine andere Frage.

Stimmt es, dass Islamisten Bots besonders häufig einsetzen?

Ich habe das auch beobachtet, dass Bots mehr genutzt werden, aber das ist einfach pragmatisch. Der Hintergrund ist, dass man so Seiten archivieren möchte: Ich habe gemerkt, dass das im Fall des so genannten Islamischen Staates zugenommen hat, nachdem ihr physisches Kalifat in Syrien und im Irak zusammengebrochen ist. Deshalb sollte quasi ein Archiv des IS eingerichtet werden, auf das sie online zurückgreifen können. Über bestimmte Befehle konnte man komplette Video-Bibliotheken herunterladen, wenn man das wollte. Da haben Bots dann eine grosse Rolle gespielt.