Sicherheitspolitische NeuausrichtungExpert*innen wollen weniger Neutralität – und näher zur NATO
tafi / SDA
29.8.2024
Mehr Geld für die Armee, Revision der Neutralität, Kooperation mit der NATO: Die Schweizer Sicherheitspolitik muss neu gedacht werden, empfehlen Experten. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
tafi / SDA
29.08.2024, 15:03
29.08.2024, 15:17
Andreas Fischer
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Das Verteidigungsdepartement (VBS) hat vor einem Jahr eine Kommission damit beauftragt, Empfehlungen für Sicherheitspolitik auszuarbeiten.
Jetzt wurde der Schlussbericht vorgestellt – mit mehr als hundert Empfehlungen, die das Schweizer Selbstverständnis teils auf den Kopf stellen.
Bundespräsidentin und VBS-Vorsteherin Viola Amherd fordert eine breite Debatte – auch über die Neutralität.
Ein Jahr lang hat sich eine vom Verteidigungsdepartement (VBS) eingesetzte Expertenkommission mit der Schweizer Sicherheitspolitik befasst. Das am Donnerstag präsentierte Ergebnis sind über hundert Empfehlungen für die Zukunft.
Die Kommission fordert etwa, die Armee verstärkt auf ihre Verteidigungsfähigkeit auszurichten und das Militärbudget bis 2030 auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu erhöhen. Weiter empfiehlt sie, das Wiederausfuhrverbot von Schweizer Waffen für gewisse Länder zu lockern.
Ebenso solle die Neutralitätspolitik grundsätzlich überdacht werden. Diese müsse stärker auf ihre sicherheitspolitische Funktion ausgerichtet und flexibler gehandhabt werden. Eine Mehrheit der Kommission empfiehlt, die Neutralitätspolitik stärker auf die UNO-Charta auszurichten sowie die Unterscheidung von Aggressor und Opfer stärker zu berücksichtigen.
Warum hat das VBS die Kommission überhaupt eingesetzt?
Der Ukraine-Krieg hat die Sicherheitslage in Europa fundamental verändert. Damit stellen sich laut dem Bundesrat wie vor und nach dem Kalten Krieg grundlegende strategische Fragen zur künftigen Ausrichtung der Schweizer Sicherheitspolitik. Dafür brauchte es auch die Perspektive von ausserhalb der Bundesverwaltung. Es war nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ausbruch des Kalten Kriegs erst das dritte Mal, dass ein solches Gremium eingesetzt wurde.
Welchen konkreten Auftrag hatten die Expertinnen und Experten?
Die sogenannte Studienkommission sollte die schweizerische Sicherheitspolitik grundlegend reflektieren und Vorschläge für die Zukunft erarbeiten. Der nun vorliegende 68-seitige Schlussbericht soll Impulse geben für die Sicherheitspolitische Strategie 2025. Das Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (Sepos) hat die Arbeiten dazu gerade begonnen. Der Bericht soll zudem Beiträge zur öffentlichen und parlamentarischen Diskussion liefern.
Wer gehörte der Kommission an?
Den Vorsitz inne hatte Valentin Vogt, der ehemalige Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands. Den Bericht verfasst hat die politische Philosophin Katja Gentinetta. Daneben arbeiteten Professorinnen und Professoren für Völkerrecht und internationale Beziehungen sowie unabhängige Expertinnen und Experten zu Sicherheitspolitik im Gremium mit. Auch die sechs Bundeshausfraktionen, Ältere und Jüngere und verschiedene Sprachregionen waren vertreten.
Welche Vorschläge macht die Kommission?
Viele. Die Kommission gibt im Bericht über hundert Empfehlungen zu sieben Bereichen ab, wie eine zukunftsgerichtete Sicherheitspolitik ausgestaltet werden könnte. Sie fordert etwa, die Armee verstärkt auf ihre Verteidigungsfähigkeit auszurichten und das Militärbudget bis 2030 auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu erhöhen.
Weiter empfiehlt sie, das Wiederausfuhrverbot von Schweizer Waffen für gewisse Länder zu lockern. Ebenso solle die Neutralitätspolitik grundsätzlich überdacht werden. Diese müsse stärker auf ihre sicherheitspolitische Funktion ausgerichtet und flexibler gehandhabt werden.
International empfiehlt die Kommission, eine Verteidigungskooperation mit der NATO und der EU einzugehen. Dazu sollten die Erwartungen an die eigene Verteidigungsfähigkeit wie auch die Gegenleistungen definiert werden.
Diese acht Punkte sind laut Kommission am wichtigsten für die Sicherheit der Schweiz
Es soll erstens eine umfassende Verteidigungskonzeption erarbeitet werden.
Zweitens sollen die Armee und die weiteren sicherheitspolitischen Instrumente auf die verschärfte Lage ausgerichtet werden
Es soll drittens die Neutralitätspolitik überarbeitet werden.
Viertens sollen vermehrt NATO-Kooperationen für die gemeinsame Verteidigung geschlossen werden.
Die militärische Friedensförderung soll fünftens ausgebaut werden.
Sechstens sei das Wiederausfuhrverbot von Schweizer Waffen aufzuheben.
Die Aussenwirtschafts- und die Wirtschaftspolitik sei siebtens als Teil der wirtschaftlichen Landesversorgung zu betrachten.
Und achtens sollen Vorkehrungen gegen Beeinflussung und Desinformation ergriffen werden.
War sich die Kommission bei den Empfehlungen einig?
Nur in seltenen Fällen, wie der Kommissionsvorsitzende Valentin Vogt einräumte. Die Kommission stimmte über jede der Empfehlungen einzeln ab. In den meisten Fällen gab es keine Einstimmigkeit. Von den 23 Mitgliedern zu Beginn waren 21 bis zum Schluss dabei. Vogt bezeichnete dies selbst als «gute Leistung». Die zwei Austritte bezeichnete er als «politisches Manöver».
Was sagt Verteidigungsministerin Viola Amherd zum Bericht?
Vor den Medien sagte Bundespräsidentin Viola Amherd, sie habe den Bericht noch nicht im Detail studiert und nehme die Empfehlungen der Kommission zur Kenntnis. Die Debatte über Lösungen in der Sicherheitspolitik habe begonnen. Der Bericht trage seinen Teil dazu bei. Auch die Frage der Neutralität müsse breit diskutiert werden. Klar sei, dass die eigene Verteidigungsfähigkeit gestärkt werden müsse.
Welche Reaktionen gibt es von den Parteien und politischen Initiativen?
«Politisch einseitige Studienkommission legt einen Gefälligkeitsbericht vor», betitelte die SVP ihre Stellungnahme. Sie lehnt sowohl die Annäherung an die NATO als auch an die EU entschieden ab.
Auch die SP kritisiert die Schlussfolgerungen des Berichts scharf. «Die Kommission diente im Wesentlichen als Empfängerin für die Visionen des VBS», hiess es.
Die Kritik der Grünen ist vernichtend. «Der Bericht ist eine Farce», schreiben sie. Sie bemängeln die fehlende Ergebnisoffenheit des Prozesses sowie die einseitige Zusammensetzung der Studienkommission.
Die Gruppe Schweiz ohne Armee (Gsoa), die nicht in der Kommission vertreten war, bezeichnet den Bericht als «Alibi-Übung». Dieser diene vor allem «den Aufrüstungswünschen der Armee und den Interessen der Rüstungslobby».
Die bürgerlich dominierte Allianz Sicherheit Schweiz beurteilt den Bericht weniger kritisch – wohl auch, weil sie mit verschiedenen Vertretern im Gremium vertreten war. Der Bericht sei «ein dringender Appell an Bundesrat und Parlament, eine umfassende Gesamtverteidigung der Schweiz zwingend umzusetzen».
Wie geht es nun weiter?
Ziel ist laut Verteidigungsministerin Viola Amherd, bis Ende 2025 die neue Sicherheitspolitische Strategie festzulegen. Diese erhöhe die Sicherheit per se aber noch nicht, hielt der Kommissionsvorsitzende Vogt im Sinn einer persönlichen Bemerkung fest.
Das Parlament müsse «endlich Verantwortung übernehmen». Nur zu debattieren, reiche nicht. «Es wäre schlimm, wenn man sich bei diesem Thema eine Meinung bilden und sie danach nie mehr revidieren würde», sagte Amherd. Ihrem Departement gehe es «nicht darum, alles auf den Kopf zu stellen». Es brauche aber allenfalls «neue Weichenstellungen».