Gerichtsurteil mit Folgen Wer im ruckelnden Zug hinfällt, kann die Bahn haftbar machen

tafi

27.2.2023

Das Handelsgericht Bern macht die SBB für Unfälle ihrer Fahrgäste bei rüttelnden Überfahrten von Weichen haftbar. 
Das Handelsgericht Bern macht die SBB für Unfälle ihrer Fahrgäste bei rüttelnden Überfahrten von Weichen haftbar. 
KEYSTONE

Hinsetzen oder festhalten – die Verhaltensregeln in Bussen und Bahnen sind klar. Doch auch wenn sie nicht befolgt werden, haften die SBB in ruckelnden Zügen bei Unfällen der Fahrgäste.

tafi

27.2.2023

Wenn der Zug ruckelt, dann müssen die SBB bei allfälligen Unfällen der Passagiere Schadenersatz leisten: So lässt sich ein Urteil des Berner Handelsgerichts (Entscheid: HG 21 17) kurz zusammenfassen. Im konkreten Fall ging es um eine Rentnerin, die auf dem Weg zu ihrem reservierten Sitzplatz bei der Überfahrt einer Weiche gestürzt war und sich dabei einen Knochenbruch zugezogen hatte.

Die Versicherung der Frau wollte daraufhin, dass die SBB die Behandlungskosten übernehmen. Weil sich der Eisenbahnbetrieb weigerte, landete die Angelegenheit vor Gericht. Das Ziel: Ein Urteil mit Leit-Charakter, das bei der Auslegung des Eisenbahngesetzes (EBG) in Zukunft Orientierung verschafft.

Das Gericht in Bern hat nun rechtskräftig entschieden, dass die SBB in dem Fall vollumfänglich haftbar sind: «Die ruckartige seitliche Bewegung eines Eisenbahnwaggons, die beim Überfahren einer Weiche verursacht wird, stellt ein charakteristisches Risiko im Sinne von Art. 40b Abs. 1 EBG dar.» Neben den kompletten Behandlungskosten müssen die SBB auch Gerichtskosten und eine Parteienentschädigung zahlen.

Für wen ist das «Ruckelfahrt»-Urteil bedeutsam?

Im vorliegenden Fall natürlich für die SBB, die gegenüber dem «Tages-Anzeiger» aber betonten, das Urteil habe weder für den Bahnverkehr noch für die Reisenden weitere Folgen. Da das Urteil Leit-Charakter hat, kann es aber auch für regionale Verkehrsbetriebe wichtig werden. Denn unter das Eisenbahngesetz fallen alle Personentransporte auf Schienen, also auch das Tram.

Welche Auswirkungen hat das Urteil für verunfallte Passagiere?

Finanziell kann es einen grossen Unterschied machen, ob die eigene Unfallversicherung oder die Haftpflichtversicherung eines Dritten zahlt. Ansprüche aus dem Haftpflichtrecht, so der «Tages-Anzeiger», übersteigen die Leistungen einer Unfallversicherung. Sprich: Kann bei einem Unfall während einer Fahrt das Verkehrsunternehmen haftbar gemacht werden, gibt es mehr Geld.

Gilt das Urteil für  jede Verletzung während der Nutzung eines Verkehrsbetriebs?

Nein. Das Urteil vom Berner Handelsgericht bezieht sich explizit auf ruckartige seitliche Bewegungen beim Überfahren einer Weiche. Zudem müssten geschädigte Personen nachweisen, dass ihr Unfall aufgrund einer solchen «Rüttelfahrt» passiert ist. Rechtsexperte Martin Hablützel rät im «Tages-Anzeiger», bei Unfällen für eine allfällige Beweisführung vor Gericht die Kontaktdaten von Zeugen aufzunehmen.

Werden Passagiere durch das Urteil von ihrer eigenen «Sorgfaltspflicht» ausgenommen?

Generell gilt, bei der Fahrt in Bussen und Bahnen zu sitzen oder sich festzuhalten. Das Selbstverschulden bei allfälligen Unfällen wird vor Gericht auf jeden Fall eine Rolle spielen. Hablützel geht davon aus, dass die SBB «früher oder später in ihren Zügen Warnhinweise auf Schildern anbringen, mit denen sie die Fahrgäste auffordern, sich während der Fahrt festzuhalten oder in der Nähe eines grösseren Bahnhofs zu sitzen.» Wer sich nicht daran hält, wird es schwerer haben, vor Gericht alle Ansprüche komplett durchzusetzen.