Eine Iranerin und ein Iraner erzählen «Wir haben nichts mehr zu verlieren»

red.

8.10.2022

Iran-Protest: Französische Stars schneiden sich Haare ab

Iran-Protest: Französische Stars schneiden sich Haare ab

«For freedom» – diese Botschaft richtet sich an die Menschen im Iran. Juliette Binoche, Marion Cotillard und andere französische Schauspielrinnen schneiden sich die Haare ab aus Protest gegen das Vorgehen des iranischen Regimes gegen Demonstanten.

06.10.2022

Lieber würde er auf der Strasse getötet, als verhaftet zu werden: Diese drastischen Worte wählt ein junger Iraner, um die Situation in seiner Heimat zu schildern. Seine Landsfrau demonstriert für ein freies Land.

red.

8.10.2022

Während Menschen im Iran weiter täglich ihre Leben riskieren, um gegen das Mullah-Regime und für mehr Frauenrechte zu protestieren, wächst auch die internationale Solidarität. Diese Woche schreitet die schwedische EU-Abgeordnete Abir Al-Sahlani ans Rednerpult im EU-Parlament in Strassburg. «Bis Iran frei ist, wird unsere Wut grösser sein als die Unterdrücker. Bis die iranischen Frauen frei sind, werden wir euch beistehen», sagt sie.

Zückt eine Schere. Schneidet sich die Haare ab (siehe Video).

Solidarität mit Protestbewegung im Iran: EU-Abgeordnete schneidet sich Haare ab

Solidarität mit Protestbewegung im Iran: EU-Abgeordnete schneidet sich Haare ab

Die schwedische EU-Abgeordnete Abir Al-Sahlani hat sich während ihrer Rede vor dem EU-Parlament in Strassburg zu den Missständen im Iran ihren Zopf abgeschnitten. Seit dem Tod einer jungen Frau reissen die Proteste gegen die Sittenpolizei im Iran

05.10.2022

Und den Iranerinnen und Iranern selber, die unter Einsatz ihres Lebens gegen das erzkonservative Regime protestieren? Wie geht es ihnen? blue News ist es gelungen, zwei junge Menschen vor Ort zu erreichen.

Aus Sicherheitsgründen bleiben beide anonym*, der Austausch mit ihnen findet über verschlüsselte Nachrichten statt. Und wird danach umgehend von beiden Seiten wieder gelöscht. Auch die Wohnorte – es sind zwei unterschiedliche – bleiben geheim.

Iranerin, 31, Architektin

«Ich klettere auf das Dach meines Hauses, zusammen mit den Nachbarinnen und Nachbarn. Aus Leibeskräften schreien wir zusammen den Slogan dieser Proteste: ‹Frauen, Leben, Freiheit›.

Diese ursprünglich kurdische Parole hat sich inzwischen bei den Demonstrationen im ganzen Land etabliert.

«Frauen, Leben, Freiheit» hat sich zum Slogan an den iranischen Demonstrationen entwickelt.
«Frauen, Leben, Freiheit» hat sich zum Slogan an den iranischen Demonstrationen entwickelt.
Screenshot: Instagram

Ich versuche, das für mich obligatorische Kopftuch so wenig wie möglich zu tragen. Ich wähle dafür die Orte sehr gezielt. Bei der Arbeit im Büro und im Inneren meines Autos trage ich es beispielsweise nicht. Das kann schon gefährlich sein, ja. Aber ich möchte damit alle anderen Demonstrierenden unterstützen.

Bin ich im Auto unterwegs, und fahre an Menschen vorbei, die ebenfalls protestieren, hupe ich aus Solidarität.

Eine gute Entwicklung immerhin gibt es: In letzter Zeit gibt es in meiner Stadt wieder vermehrt Cafés, in denen es für uns Frauen okay ist, kein Kopftuch zu tragen. Vor den Protesten wurden solche Cafés von der Sittenpolizei jeweils sofort geschlossen, wenn darin jemand kein Kopftuch getragen hatte.

Aber ja, ich habe riesige Angst vor den Repressionen des Regimes. Dennoch finde ich es wichtig, sich zu solidarisieren. So viele tun momentan so viel wie möglich, um lautstark zu zeigen, dass wir überhaupt nicht einverstanden sind mit der Politik.

Ich weiss nicht, ob die Demonstrationen die Situation für Frauen in meinem Land zum Guten verändern. Aber ich – und alle Menschen, die protestieren – hoffen es. Das ist unser Antrieb.

Die Situation wird sich kaum in einigen Tagen verbessern, aber es ist ein Anfang. Für die Frauen. Und für jede Seele, die uns unterstützt. Sodass wir hoffentlich eines Tages einen freien Iran erleben dürfen.»

Iraner, Mitte 30, aktuell arbeitslos

«Wir haben nichts mehr zu verlieren. Viele Menschen sind traurig und machtlos ob dieser Gewalt. Die Zeiten sind gerade wirklich schwierig. Es geht nicht nur um die wirtschaftliche Lage, die Leute sind müde ob der absurden Regeln.

Wir wollen Freiheit.

Die Proteste haben direkte Auswirkungen auf mein Leben: Es gibt kaum mehr Internet. Auch kommen keine Touristen mehr. Von ihnen aber habe ich gelebt. Ich verdiene kein Geld mehr. Wovon ich also lebe? Von meinem Ersparten.

Das alles steigert meine Wut. Und die meiner Freunde. Das Regime muss weg.

Das hat die Proteste ausgelöst
Iranian nationals living in Ecuador protest against the death of Mahsa Amini, a 22-year-old who died in Iran while in police custody, in front of the Foreign Ministry building in Quito, Ecuador, Wednesday, Oct. 5, 2022. Amini was arrested by Iran's morality police for allegedly violating its strictly-enforced dress code. (AP Photo/Dolores Ochoa)
KEYSTONE

Mitte September starb die 22-jährige Mahsa Amini, kurdischer Name «Jina». Sie war von der Sittenpolizei wegen ihres «unislamischen Outfits» festgenommen worden. Was danach geschah, ist umstritten, klar ist, Amini starb später im Spital. Der «Moralpolizei» wird vorgeworfen, Gewalt angewendet zu haben. Diese weist die Vorwürfe zurück. Seither kommt es in iranischen Städten zu blutigen Unruhen. Laut Iran Human Rights haben dabei bislang über 100 Menschen ihre Leben verloren.

Das Problem: Für unseren Wunsch nach Freiheit gibt es keinen Anführer, niemanden, der einen solchen Wandel herbeiführen könnte. Wer sich gegen das Regime äussert, landet im Gefängnis. Oder muss aus dem Land flüchten. Dagegen wehren wir uns jetzt.

Die schiere Menge an Protestierenden macht selbst das Regime hilflos. Es hat ja in den letzten vierzig Jahren genug oft bewiesen, dass es die Opposition zum Schweigen bringt. Aber aktuell weiss das Regime nicht, was tun. Weil sich so viele wehren. Sie töten eine Person. Doch Hunderte kommen nach.

Auf die Demonstrationen gehen vor allem sehr junge, weltoffene Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren. Aber eben nicht nur. Viele – auch Männer wie ich – solidarisieren sich.

Als Mann ist es auf den Demonstrationen besonders gefährlich. Die Polizei verhält sich Männern gegenüber anders, noch brutaler. Man sollte ja meinen, ein Polizist erschiesst keine alte oder sehr junge Frau. Und doch ist ja leider auch das vorgekommen.

Um ehrlich zu sein: Ich würde lieber auf der Strasse getötet als verhaftet zu werden. Warum? Weil niemand weiss, was mit dir geschieht, nachdem du verhaftet wurdest. Das willst du nicht.

Das Regime versucht, die Demonstrationen auf die Religion oder auf den Hijab kleinzureden. In Tat und Wahrheit aber geht es um viel mehr: Es geht um unsere Freiheit. Wir sind nicht grundsätzlich gegen die Religion. Der Iran ist ein religiöses Land, das wissen wir. Das ist gar nicht das Problem.

Das Problem ist: Wir sind nicht frei. Sogar religiöse Menschen sehen das. Und angesichts der unschuldigen jungen Frauen, die getötet werden, unterstützen sogar die Religiösen die Demonstrierenden.»

*Namen der Redaktion bekannt.