NewsUS-Justiz stösst bei Harvey Weinstein an Grenze
dpa
25.2.2020 - 09:11
Kein Fall ist so eng an die MeToo-Bewegung geknüpft wie der von Harvey Weinstein. Der Prozess gegen den einst mächtigen Produzenten hinterlässt Zweifel, wie geeignet Laienrichter in Zeiten maximaler medialer Mobilisierung sind.
«Die Menschen des Staates New York vs. Harvey Weinstein» stand immer wieder auf den grossen Bildschirmen im Gerichtssaal 1530 in Manhattan. Die besagten Menschen sassen an der Seite in zwei Reihen, fünf Frauen und sieben Männer.
Sie sprachen nun den einst übermächtigen Weinstein schuldig. Nicht in den schwersten Anklagepunkten, doch trotzdem wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung – er könnte Jahrzehnte hinter Gitter kommen. Das Verfahren aber kämpfte vom ersten Tag an mit einer grossen Schwäche: Der maximalen medialen Mobilisierung.
«Wie kann so etwas in Amerika passieren?», sagte Weinstein in Schockstarre nach Angaben seines Anwalts, während er das historische Urteil hörte. Es war das vorläufige Ende eines beispiellosen öffentlichen Kampfes, angefangen vor mehr als zwei Jahren mit Vorwürfen von Frauen aus der Unterhaltungsbranche gegen Weinstein. Unter grossem Risiko für sich und ihre Karrieren traten sie in Artikeln des «New Yorkers» und der «New York Times» hervor. Ihre Zahl schwoll bald auf über 80 an.
Doch aus dem Skandal um Weinstein erwuchs etwas noch Grösseres: Viele erkannten ihre eigenen Peiniger in den Geschichten wieder, die Weinsteins Opfer erzählten. Der massige Mann mit dem schiefen Gesicht wurde zum Symbol des «raubtierhaften» männlichen Machtmissbrauchs. Und die MeToo-Debatte fand Eingang in Familien, Büros, Sportvereine und bis in die letzten Winkel der Gesellschaft.
Kaum jemand blieb von der umwälzenden Macht der Bewegung mit 19 Millionen #MeToo-Tweets in einem Jahr unbeeindruckt. So gut wie jeder hatte eine Meinung zur neuen Welle im Kampf für Frauenrechte. Ob es nun die blanke Wut vieler gegenüber frauenverachtendem Verhalten war oder ein Unverständnis bei Anderen, von denen einige sich fragten: «Was darf man jetzt eigentlich noch?».
MeToo veränderte nicht nur die USA, sondern die ganze Welt. Und auch, wenn die Prozessbeteiligten den Eindruck vermeiden wollten: Für viele wurde das Verfahren gegen Weinstein zu einem Stresstest der Bewegung.
Der Fall von Harvey Weinstein brachte die US-Justiz dabei an ihre Grenzen. Idealerweise stehen Juroren den Inhalten eines Gerichtsverfahrens mit grösstmöglicher Neutralität gegenüber und sind für Argumente von Anklage und Verteidigung gleichermassen offen – das schien in diesem Fall in New York kaum möglich. Wie tief MeToo in die Gesellschaft vorgedrungen war, zeigte sich auch, als sich potenzielle Geschworene bei der Jury-Auswahl reihenweise für befangen erklärten.
Proteste und Gesänge von Aktivisten waren bis in den Gerichtssaal im 15. Stock hinein zu hören. Weinsteins Verteidiger argumentierten, dass bei einer Atmosphäre wie in einem «Zirkus» kein unparteiischer Prozess möglich sei. Ihr Antrag zur Verlegung aus der Stadt heraus wurde von Richter James Burke zurückgewiesen. Der schärfte den gewählten Juroren ein: «Dieser Prozess ist kein Referendum über die MeToo-Bewegung».
Weinstein-Chefanwältin Donna Rotunno sprach die Jury in einem umstrittenen Kommentar für das US-Magazin «Newsweek» direkt an. Sie bemängelte die angebliche Parteilichkeit der Medien und bezweifelte, dass die Juroren sich vom Sog ihrer Berichterstattung fernhalten konnten: «Glaubt jemand in einem hochkarätigen Fall wie dem von Harvey Weinstein wirklich, dass dies realistisch möglich ist?»
Nun kann man den fünf Frauen und sieben Männern der Jury nicht vorwerfen, dass sie es sich leicht gemacht hätten. Eine ihrer Anfragen am Freitagnachmittag offenbarte, dass sie bei den beiden schwersten Vorwürfen mit sich rangen. Am Ende stand der Schuldspruch in zwei Fällen, ein Freispruch in dreien.
Auch die Reaktionen offenbarten das immense Spannungsfeld, in dem die Entscheidung getroffen wurde. Während die Verteidigung in ihrer angekündigten Berufung die Neutralität des Gerichts anzweifeln dürfte, kritisierten mutmassliche Opfer Weinsteins – darunter prominente Schauspielerinnen wie Ashley Judd und Rosanna Arquette -, dass Weinstein nicht in allen Punkten schuldig gesprochen wurde.
Das Urteil ist trotzdem ein grosser Sieg und Meilenstein für sie, die MeToo-Bewegung und Opfer sexueller Gewalt. Ausserhalb des Gerichtssaals hatte die Gesellschaft Weinstein auch angesichts der überwältigenden Zahl von Frauen, die ihn überzeugend beschuldigten, schon längst gerichtet. Dass er seine Machtposition schamlos ausnutzte, um junge Frauen dazu zu bringen, mit ihm zu schlafen, ist unbestritten. Doch moralische Schuld war und ist nicht gleichzusetzen mit der juristischen.
In den vergangen Wochen ging es darum, ob die Vorwürfe auch in den engen Grenzen einer Anklage vor Gericht bestehen könnten. Die Staatsanwaltschaft kam mit der Anklage auch einem riesigen öffentlichen Druck nach. Ihr Vorgehen war risikoreich: Die Anschuldigungen vieler Frauen konnten aus verfahrenstechnischen Gründen nicht Teil des Prozesses sein – übrig blieben sechs mutmassliche Opfer. Dazu kam die Schwierigkeit, eine Jury von sexuellen Übergriffen nur anhand von Zeugenaussagen zu überzeugen.
In zwei Anklagepunkten schafften die Staatsanwältinnen Joan Illuzzi und Meghan Hast das trotzdem – ein auch rechtlich historischer Sieg.
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