Coronakrise «Die Nachfrage nach sicheren Abtreibungen hat sich halbiert»

Von Julia Käser

12.12.2020

Die Organisation Marie Stopes International (MSI) rechnet mit 1,5 Millionen zusätzlichen unsicheren Abtreibungen – wegen der Corona-Krise.
Die Organisation Marie Stopes International (MSI) rechnet mit 1,5 Millionen zusätzlichen unsicheren Abtreibungen – wegen der Corona-Krise.
Bild: Keystone

Die Corona-Pandemie trifft uns alle, aber nicht alle gleich hart. Gerade junge Frauen sind besonders bedroht – weil der Zugang zu sicheren Abtreibungen erschwert ist. Eine Expertin sieht in der Krise aber auch eine Chance.

Mehr als 22'000 Frauen sterben jährlich an den Folgen einer unsicheren Abtreibung. Die Corona-Pandemie wird diese Zahl weiter in die Höhe treiben. Davon geht zumindest die Organisation Marie Stopes International (MSI) aus, die Verhütungsmittel und Schwangerschaftsabbrüche anbietet. 

Im Zuge der Pandemie rief MSI dazu auf, Frauen den Zugang zu Empfängnisverhütung und sicherer Abtreibung auch während der Krise zu ermöglichen. «Es kostet rund 3 US-Cent pro Tag, eine junge Frau ein Jahr lang vor einer ungewollten Schwangerschaft zu schützen – damit sie ihre Ausbildung beenden oder sogar ihr Leben retten kann», so Geschäftsführer Simon Cooke. 

Aufgrund der Pandemie wurden Gesundheitseinrichtungen wie Spitäler vielerorts geschlossen – teils sind sie es noch immer. Das erschwert den Zugang zur gynäkologischen Versorgung. Gerade in nicht-westlichen Staaten kann das gravierende Folgen haben. 

«Als Arzt habe ich nur zu oft die drastischen Massnahmen gesehen, die Frauen und Mädchen ergreifen, wenn sie keinen Zugang zu Verhütung und sicherer Abtreibung haben», sagt Rashmi Ardey, Arzt und Leiter der klinischen Dienste des MSI-Programms in Indien. 

Hunderttausende unsichere Abtreibungen wegen Corona

Infolge der Pandemie und den Schutzmassnahmen konnte auch MSI selbst deutlich weniger Frauen erreichen als vor der Corona-Krise. Laut eigenen Angaben wurden zwischen Januar und Juni insgesamt 1,9 Millionen Frauen weniger begleitet als in der Vorjahresperiode.

Bereits vor der Pandemie handelte es sich bei rund 45 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche um unsichere Abtreibungen. Für die 37 Staaten, in denen MSI tätig ist, rechnet die NGO nun mit 1,5 Millionen zusätzlichen unsicheren Abtreibungen – und über 3'000 zusätzlichen schwangerschaftsbedingten Todesfällen. 

Vorsichtig mit solch einer Prognose ist Nelly Staderini, Expertin für Frauengesundheit bei Medecins Sans Frontières. Um ein Fazit über den Einfluss der Pandemie auf die Mütter- und Säuglingssterblichkeit zu ziehen, sei es noch zu früh, sagt sie zu «blue News». 

Immerhin: Corona ist weniger gefährlich als Ebola

Klar sei aber: Derart gravierende Auswirkungen wie Ebola wird die Corona-Pandemie glücklicherweise nicht haben. Das Ebola-Virus, das zwischen 2013 und 2016 in Westafrika wütete, hatte die Müttersterblichkeit dort rasant in die Höhe steigen lassen. 

«Anders als Ebola ist das Coronavirus für schwangere Frauen in der Regel nicht tödlich», erklärt Staderini. Auch der Kontext sei ein anderer. Während das Ebolafieber hauptsächlich in drei westafrikanischen Staaten auftrat, kämpft die ganze Welt gegen das Coronavirus. 

Wie MSI bietet Medecins Sans Frontières Verhütungsmittel an, ermöglicht sichere Schwangerschaftsabbrüche – und versorgt zudem Frauen nach unsicheren Abtreibungen medizinisch. Was Staderini von all ihren Erfahrungen während der Pandemie am meisten beunruhigt, ist die zurückgegangene Nachfrage nach Abtreibungen. «Diese hat sich halbiert.»

Weniger Beratungen zu sexueller Gewalt

Auch Beratungen zum Thema sexuelle Gewalt seien während der Pandemie deutlich weniger gefragt gewesen. «Das müssen wir unbedingt im Auge behalten.»

Laut Staderini hat das einerseits damit zu tun, dass zuständige Kliniken schliessen mussten. Andererseits hätten die Corona-Beschränkungen je nach Land auch die Kommunikationsmöglichkeiten verändert und eingeschränkt. All das kommt hinzu zu Hindernissen wie Scham und Stigmatisierung, die es den Frauen ohnehin erschweren, sich Hilfe zu holen. 

Immerhin: Die gute Nachricht sei, dass die Qualität des Hilfsangebots von Medecins Sans Frontières nicht unter den erschwerten Bedingungen gelitten habe, sagt Staderini. «Rund 95 Prozent der Frauen, die Hilfe suchten, erhielten eine angemessene Beratung von uns.» Dieser Wert liege in der Norm.

Telemedizin als grosse Chance der Pandemie

Staderini plädiert dafür, aus der Pandemie auch zu lernen. «Manchmal denken wir zu konservativ. Wir sollten aus den neuen Möglichkeiten schöpfen, auf die teils zurückgegriffen werden musste.»

Damit meint sie in erster Linie die Telemedizin. Die Erfahrungen, die man damit in der Krise bisher gemacht habe, seien positiv. «Es geht vermehrt darum, den Patientinnen zu vertrauen, ihnen sorgfältige Ratschläge zu erteilen und sie zu unterstützen, damit sie sich selbst helfen können.» 

Auch MSI setzt während der Pandemie auf Telemedizin. In Grossbritannien wurden Tausende von Frauen per Telefon- oder Video-Konsultation behandelt. So hatten sie die Möglichkeit, sich Abtreibungsmedikamente selbst zu verabreichen. Studien zeigen, dass dieses Vorgehen ebenso sicher und wirksam ist wie Schwangerschaftsabbrüche, die in medizinischen Einrichtungen durchgeführt werden. 

Einen weiteren Vorteil hat die Telemedizin für Organisationen wie MSI oder Medecins Sans Frontières: Auf Onlineplattformen kann sich das Medizinpersonal weltweit austauschen. Das ermöglicht das Urteil einer Spezialistin oder eines Spezialisten, ohne dass diese Person vor Ort ist. Die Digitalisierung in der Medizin bietet also die Chance, Menschen in benachteiligten Regionen hochwertig zu behandeln.

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