Schweizer BuchpreisAnna Stern: Diskurs statt fertige Lösungen
SDA
3.11.2020 - 12:04
Die Ostschweizer Autorin Anna Stern ist mit ihrem Roman «das alles hier, jetzt.» für den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert: «Mich berühren Texte, die mich dazu bringen, über Fragen nachzudenken, die mich und mein Umfeld betreffen», sagt sie.
Source:Keystone/GAETAN BALLY
Literatur kann Fragen stellen, sagt die Autorin Anna Stern. Mit ihrem Roman «das alles hier, jetzt.» stellt sie zur Debatte, ob Kategorien wie Mann oder Frau zählen, wenn ein naher Mensch stirbt.
«Irgendwann kommt der Punkt, an dem es kippt: Dann will ich die Figuren loswerden», sagt Anna Stern gegenüber Keystone-SDA. Das ist jeweils der Moment, in dem die Ostschweizer Autorin, die mittlerweile in Zürich lebt, mit Schreiben beginnt. Wochen-, manchmal monatelang trug sie zuvor die Figuren mit sich herum. Lernte sie kennen, führte gedanklich deren Leben.
«Das ist spannend, aber die Figuren nehmen teilweise viel Raum ein», sagt die 30-Jährige. «Ist die Geschichte auf Papier, haben sie ein Gefäss und lassen mich in Ruhe.» Allerdings tauchten dann sofort neue Figuren auf, erzählt Anna Stern lachend.
Auch die Charaktere in ihrem Roman «das alles hier, jetzt.» hatten die Autorin eine Weile begleitet, bevor sie deren Geschichten niederschrieb. Dennoch war der Schreibprozess bei ihrem vierten Buch, mit dem sie nun für den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert ist, ein anderer als sonst.
Links das Heute, rechts das Früher
In «das alles hier, jetzt.» geht es um den Verlust einer geliebten Person. Ananke und Ichor waren ihr Leben lang Freunde, bis Ananke viel zu früh, mit 25 Jahren, stirbt. Das Buch ist so gestaltet, dass es über weite Strecken zweigeteilt ist: Auf der linken Seite in schwarzer Schrift beschreibt Anna Stern episodenhaft die Trauer, die klaffende Lücke. Auf der rechten Seite in Grau erinnert sich die Erzählerin an früher, als Ananke noch da war.
Es sind kurze, in sich abgeschlossene Szenen in Du-Form. «Anders als bei früheren Texten hatte ich mir diesmal den Grossteil der Textfragmente vor dem eigentlichen Schreiben in Notizbücher notiert», sagt Anna Stern. Später schrieb sie die Szenen am Computer ins Reine. Die Reihenfolge, wie die Passagen jetzt im Buch auftreten, entspricht nicht der Reihenfolge ihrer Entstehung.
Dadurch, dass bei «das alles hier, jetzt.» ein offensichtlicher Spannungsbogen fehlt, der einen von Seite zu Seite führt, muss man sich beim Lesen immer wieder neu für den Text entscheiden. Dass man es tut, liegt an der Nähe, die Stern zwischen den Figuren und der Leserin schafft. Mit entwaffnender Emotionalität, mit einer Sprache, die so rhythmisch ist, dass man sie singen könnte.
«Der Text ist anspruchsvoll von der Form her und das Lesen erfordert Konzentration, das ist mir bewusst», sagt Anna Stern, die zurzeit an der ETH Zürich zum Thema Antibiotikaresistenzen doktoriert. Während des Schreibens denke sie aber nicht an ihre Leserinnen und Leser. «Natürlich freue ich mich, wenn meine Bücher gelesen werden. Was nach dem Schreiben mit dem Text passiert, ist während des Schreibens für mich aber nicht relevant.»
Diskurs anregen
Was passiert denn idealerweise nach dem Schreiben? Was vermag gute Literatur? «Literatur kann keine fertigen Lösungen präsentieren, daran glaube ich nicht. Aber sie kann einen Diskurs anregen. Über Werte, über Richtungen, die eine Gesellschaft einschlagen sollte», sagt Anna Stern. «Mich berühren Texte, die mich dazu bringen, über Fragen nachzudenken, die mich und mein Umfeld betreffen. Die meinen Status Quo in Frage stellen.»
Da setzen auch ihre eigenen Bücher an. Man findet darin keine Hinweise auf die grossen gesellschaftlichen und politischen Probleme unserer Zeit. Einen Klimaroman oder einen Coronaroman werde es von ihr nie geben, sagt Anna Stern, obwohl sie gerade für letzteren prädestiniert wäre. Infektionskrankheiten und Pandemien sind ein Thema, das die Umweltnaturwissenschaftlerin schon länger interessiert, auch literarisch.
2019 hat sie zwar ein Exposé für einen Roman verfasst, in dem eine Pandemie vorkommt – allerdings nur im Kopf einer Frau, die an Wahnvorstellungen leidet. «Im Zentrum des Textes wäre nicht in erster Linie die Pandemie gewesen, sondern die Beziehung dieser Frau zu ihrer Psychiaterin.» Die Idee hat Anna Stern vorerst verworfen.
Das Faszinierende und gleichzeitig Beklemmende an Infektionskrankheiten sei, dass ein Organismus, der nicht einmal lebe, der so klein sei, dass wir ihn niemals von Auge sehen könnten, beim viel grösseren Organismus Mensch so einen Schaden anrichten könne. «Situationen wie die aktuelle, die den Menschen dazu bringen, sein Leben zu überdenken, interessieren mich auch literarisch.»
In «das alles hier, jetzt.» ist es der Verlust, der die Hinterbliebenen zum Nachdenken zwingt. Es geht um die Frage: Was passiert, wenn ein Freund stirbt? Und auch: Nehme ich mein Gegenüber als Frau, als Mann oder einfach als Menschen wahr? Die Namen der Figuren – Ananke, Ichor, Cato oder Eden- wie auch das «Du» statt der geläufigen Ich-Form, erlauben keine eindeutige Geschlechtszuordnung.
«Diese ist der Leserschaft überlassen», sagt Anna Stern. «Für das Verständnis des Buches ist es nicht wichtig zu wissen, ob es sich bei den Figuren um Männer oder Frauen handelt. Es handelt sich um Menschen.» In je weniger Kategorien man sich selbst und andere einteile, desto besser, findet sie. Wenn Literatur dazu animieren könne, über solche Dinge nachzudenken, sei viel erreicht.*
*Dieser Text von Maria Künzli, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert.
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