Freiluftgefängnis Chios Bastian Seelhofer zur Lage auf Chios: «Der Polizeiapparat ist überfordert»

Cornelia Alig

26.12.2017

Europa steht im Zentrum der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Nicht tatenlos zuschauen konnte der Basler Jugendarbeiter Bastian Seelhofer. Er hilft, «weil nichts dagegen spricht». Mit Bluewin spricht er über die Lage auf der griechischen Insel Chios, wo er seit geraumer Zeit mit seinem Hilfswerk «Be Aware and Share» tätig ist.

Im Herbst 2015, als zehntausende von Flüchtlingen unter widrigsten Bedingungen aus Syrien, dem Iran, Pakistan oder Afghanistan quer durch Südosteuropa nach Deutschland reisten, konnte er nicht anders: Der Basler Jugendarbeiter Bastian Seelhofer beschloss spontan, nach Kroatien zu reisen, um Hilfsgüter vor Ort zu verteilen. Eigentlich nur für ein Wochenende.

Aus der Idee entstanden ist gewissermassen über Nacht, nachdem ein Spenderaufruf per Facebook innerhalb von 24 Stunden acht Tonnen Material einbrachte, das Hilfswerk «Be Aware and Share» (BAAS). Mit dem Verein hat Bastian Seelhofer seither beträchtliche Hilfe an Brennpunkten entlang der Flüchtlingsroute und auf der griechischen Insel Chios geleistet, wo inzwischen zwei Schulen und ein Jugendzentrum aufgebaut wurden.

Chios wurde für die Flüchtlinge nach den EU-Türkei-Deal zum Freiluftgefängnis: Hunderte Flüchtlinge stecken teils seit März auf der Insel fest - legal kommen sie gemäss Asylverfahren nicht mal aufs Festland. Das Leben dort hat sich auch für die Einheimischen verändert - der Tourismus und die Wirtschaft leiden. Die Stimmung auf beiden Seiten ist angespannt.

«Bluewin»: Wie funktioniert das Asylverfahren in Griechenland?

Bastian Seelhofer: In Griechenland gibt es zwei Interviews: Das erste wird auf den Inseln geführt. Nur wer das besteht, darf aufs Festland weiterreisen, wo das zweite Gespräch stattfindet. Dabei kommt es allerdings zu langen Wartezeiten.

«Ein Beispiel: Zwei Jugendliche, die das erste Gespräch bei uns auf Chios bestanden haben und somit nach Athen reisen durften, müssen nun bis März 2017 auf das zweite Gespräch warten. Die Wartezeit verbringen sie auf der Strasse.»

Bastian Seelhofer

Bestehen die Asylsuchenden das zweite Gespräch nicht, können sie immerhin Rekurs einlegen. Dann steht es 50:50 ob das Gespräch wiederholt wird oder es zur Deportation kommt. Mittlerweile gibt es sogar Leute, die freiwillig wieder zurück in ihr Land gehen. Sie wollen nicht mehr warten, sie können nicht mehr. Es gibt aber auch einige, die sich nach Athen schmuggeln, um sich das erste Gespräch zu ersparen. Und andere, die nur deshalb Asyl beantragen, um legal nach Athen zu kommen und dann weiterzureisen, ohne das zweite Gespräch je wahrzunehmen. Denn: Auf den Inseln leben die Flüchtlinge wie in Freiluftgefängnissen. Vom Festland aus haben sie immerhin die Möglichkeit, auf dem Seeweg nach Italien oder der Küste entlang nach und durch Mazedonien zu reisen.

Wie ist die Situation momentan in den Camps auf Chios?

Auf Chios gibt es zwei Camps: Das Stadtcamp Souda, dort wohnen zwischen 800 und 1000 Leute, obwohl es eigentlich für 600-700 Leute ausgerichtet ist, ist ein offenes Camp und besteht aus Zelten und Ikea-Hütten. Das Problem im Stadtcamp: Man ist zwar sehr mobil, doch die Hygiene- und Lebensbedingungen sind sehr viel schlechter als im anderen Camp und es herrscht Gewalt. Der Frust auf Seiten der Flüchtlinge und der Bevölkerung ist sehr gross, was ich absolut nachvollziehen kann. Flüchtlinge, die schon seit Wochen feststecken und den ganzen Tag nichts zu tun haben, sind nicht einfach. Der Tourismus und die Wirtschaft leiden ebenfalls unter der Situation. Wenn dann aber Gruppierungen auf die Insel reisen, um das Camp anzugreifen und die Flüchtlinge sich wehren, verstehe ich das auch – das Camp ist alles, was die Menschen noch haben, das Verteidigen sie aufs Letzte.

Das zweite Camp heisst Vial. Es ist total ab vom Schuss. Die Hälfte des Camps ist eine Müllhalde. Ursprünglich, das heisst nach dem EU-Türkei-Deal, war es das Deportationscamp, mittlerweile ist es jedoch offen für alle Flüchtlinge. Das Camp hat Platz für 1000 Leute, ist jedoch massiv überfüllt. Ausserdem ist das Essen extrem schlecht und überhaupt nicht kindsgerecht: Manchmal gibt’s Wasser, eine Frucht und ein Stück Brot.

Wofür hast du kein beziehungsweise kaum Verständnis?

Ich habe kein Verständnis dafür, wie der Polizeiapparat in Griechenland funktioniert. In meinen Augen ist der überfordert. Was ich ein sehr schwieriger Aspekt finde ist, dass die Polizei erwiesenermassen sehr rechtsorientiert ist - das haben wir auch vor einigen Wochen gesehen, als ein Feuerwerksladen ausgeräumt wurde, Massenschlägereien ausgebrochen sind und 20-Kilo-Steine in ein Camp geworfen wurden. Damals wurden über 30 Flüchtlinge festgenommen, aber keine Griechen. Die Polizei schreitet nicht ein, schaut zu und toleriert die Angriffe einfach, fährt dann aber im Camp ein und verhaftet so viele Flüchtlinge. Damit schütten sie noch mehr Öl ins Feuer.

Als du im Herbst 2015 zum ersten Mal Hilfsgüter gesammelt hast, sind innert 24 Stunden acht Tonnen Material zusammengekommen und unzählige positive Rückmeldungen – sind die Leute immer noch so spendierfreudig?

Die Spendenfreude hat etwas abgenommen, weil das Thema kein Massenphänomen mehr ist, wie damals, als das Bild von dem kleinen Jungen um die Welt ging. Doch die Finanzierung funktionierte immer, auch wenn es manchmal Durststrecken gab und wir kreativ sein mussten, um an neue Gelder und Material zu kommen.

Wieso hat es sich für dich gelohnt, dein Leben in der Schweiz zurückzulassen und nach Chios zu gehen? Warum tust du das?

Anfangs, als ich nur für ein Wochenende nach Kroatien fahren wollte, habe ich mich gefragt, gibt es ein Argument, wieso ich es nicht tun sollte? Ich habe keines gefunden. Mit dem ersten Spendeaufruf ist alles so schnell gewachsen und BAAS wurde gegründet. Ich habe mich wieder gefragt, gibt es ein Argument dafür, jetzt zu bremsen oder gar zu stoppen? Und ich habe wieder keines gefunden. Wir erleben die grösste Menschenwanderung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Es wird zu einem gesellschaftlichen Wandel kommen – ob wir wollen oder nicht. Für mich ist es wichtig, ein Teil des Wandels zu sein. Ich will zum Wandel lieber etwas beitragen als wegzuschauen und vielleicht Gefahr zu laufen, total überfordert zu sein, wenn die Veränderung dann einschlägt.

Gibt’s den überhaupt irgendwann ein Argument aufzuhören? Ich meine, bevor sich die Situation normalisiert hat?

Ich und die anderen, die seit über einem Jahr dabei sind und seither in Chios leben, können die Insel nicht verlassen, solange noch Kinder von uns da sind. Das geht nicht. Wenn irgendwann der Punkt kommt, an dem mir alles zu viel wird, weil ich es schon sehr lange mache, würde ich mich einfach darum kümmern, dass das Projekt weitergeführt wird und mir eine Auszeit nehmen. Die Segel würden und könnten wir nicht streichen. Das brächten wir nicht übers Herz.

Wie finanziert ihr euer Leben in Chios?

Ich wollte für ein Jahr nach Chios, um ein Team zu leiten. Dafür haben wir ein Paten-System entwickelt: 100 Paten zahlen pro Monat 35 Franken. Mit den monatlich 3500 Franken finanzierte ich nun ein Jahr lang unser Appartement, das Benzin, die Autoversicherung, meine Versicherung und alle Drittkosten. Schliesslich hatte ich noch bis zu 700 Franken zum Leben. Bald waren wir zu dritt stetig vor Ort. Mit meinem Geld und der Unterstützung meiner Eltern konnten auch die anderen beiden bleiben. Nun bemühen wir uns, das Paten-System weiterzuentwickeln, damit zusätzlich drei Leute vor Ort bleiben können - weil wir mittlerweile nicht mehr nur Essen verteilen und Nachtschichten schieben, sondern zwei Schulhäuser und ein Jugendzentrum mit 400 Schüler und Schülerinnen betreiben.

Wie gross ist das Team? Wie wohnt ihr?

Wir sind zwischen 20 und 25 Leute auf Chios. Volontäre aus der ganzen Welt unterstützen uns jeweils bis zu 3 Monate. Die Akquisition und Registration der Freiwilligen passiert in der Schweiz. Da alle alles machen – wir holen die Kinder von den Camps ab, betreuen sie, kochen, lehren, reparieren, etc -, müssen wir die Bewerbungen gut beurteilen: Es geht dabei um Lebensläufe, Kinderschutz-Geschichten, Strafregisterauszüge - wir arbeiten immerhin auch mit 6-jährigen Kindern. Lehrer oder Sozialarbeiter zu sein ist von Vorteil, jedoch nicht eine Voraussetzung. Es geht uns mehr um die Person. Sie muss in unser Team passen, denn wir leben wie in einer Hippiekommune, 24 Stunden am Tag. Ausserdem muss einem die Arbeit entsprechen und man muss belastbar sein.

Ihr betreibt zwei Schulen und ein Jugendzentrum. Wie muss man sich den Stundenplan vorstellen?

Jedes Kind hat an drei Tagen pro Woche Schule. Als Grundelemente unterrichten wir Englisch und Mathe. Im Zentrum stehen allerdings nicht die schulischen Leistungen, sondern das Ziel, den Kindern einen gewaltfreien Tag zu ermöglichen. Wir wollen ihnen ein sicheres Umfeld zurückgeben, ihnen einen Ort bieten, wo sie wieder lernen, was es überhaupt heisst, Kind zu sein. Uns ist es wichtig, die Kinder so gut es geht auf eine reguläre Schule vorzubereiten. Sie müssen lernen sich zu konzentrieren und respektvoll miteinander umzugehen. Die Werte und Normen, die uns in der Erziehung mitgegeben werden, sind bei ihnen verloren gegangen, weil sie seit Jahren in einem Kriegsgebiet leben.

«Ein Beispiel: Wir hatten einen 11-jährigen Jungen, der noch nie im Leben in der Schule war. Nach dem ersten Schultag kam er mit Tränen in den Augen zu uns, er umarmte uns und sagte: «Danke vielmals, das war der schönste Tag in meinem Leben. Ich habe grad meinen ersten Schultag erlebt.» Mit 11.»

Bastian Seelhofer

Wieso Englisch? Wieso nicht Griechisch, Arabisch oder Farsi?

Anfangs haben wir Arabisch und Farsi unterrichtet. Im Gespräch mit den Eltern haben wir aber herausgearbeitet, dass sie lieber hätten, wir würden mit den Kindern Englisch lernen. Englisch ist der Schlüssel zur Ressource. Arabisch und Farsi können sie ihnen auch im Camp zeigen. Griechisch unterrichten wir deshalb nicht, weil die Flüchtlinge zu 99 Prozent nicht in Griechenland bleiben wollen. Griechisch zu lernen würde für die Eltern etwas Definitives, etwas Langfristiges bedeuten. Sie würden ihre Kinder aus Angst nicht mehr zur Schule schicken.

Wie alt sind die Kinder?

Zwischen 6 und 18 Jahren. Dank der zweiten Schule sind wir nun viel flexibler geworden. Wir können den Unterricht altersspezifisch gestalten und die Kinder individuell fördern. Expliziten Wünschen der 15-18-Jährigen, neben den Projektstunden noch mehr akademische Leistungen zu erbringen, können wir nun nachgehen.

Wie kommen die Kinder unterschiedlicher Länder miteinander aus?

Der Hass zwischen Syrer, Afghanen, Iraner, Iraker oder Algerier ist extrem hoch. Das kommt oftmals von der Erziehung, aber auch von NGO's oder den Behörden, die Syrer grundsätzlich bevorzugen. Das schürt natürlich Unruhe. Gerade Rassismus ist ein grosses Thema. Mit verbaler und nonverbaler Gewalt beschäftigen wir uns deshalb täglich. Vor allem unter 6-10-Jährigen gibt es schnell mal eine Ohrfeige. Wir verbringen also wie gesagt viel Zeit damit den Kindern zu zeigen, wie man miteinander kommuniziert und einander respektiert. Sie müssen das lernen, sonst haben sie später keine Chance in regulären Schulen.

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