Corona in Argentinien Schwerer Schlag für die Tango-Kultur

Von Débora Rey, AP

20.6.2021 - 11:14

Trotz der Corona-Restriktionen tanzen Menschen in Buenos Aires Tango.
Trotz der Corona-Restriktionen tanzen Menschen in Buenos Aires Tango.
AP Photo/Natacha Pisarenko/Keystone

Der Tango ist der Inbegriff der argentinischen Kultur, Tausende Menschen sind in der Branche beschäftigt. Doch die Pandemie bedroht nun die Zukunft des körpernahen Tanzes. Eine Tanzlehrerin greift zu einem überraschenden Hilfsmittel, um ihre Schritte nicht zu verlernen.

20.6.2021 - 11:14

Die Stühle in dem riesigen Ballsaal sind gestapelt, die Lautsprecher ausgestöpselt, und das Klavier auf der Orchesterbühne ist zugeklappt. An der Wand der Tangoschule «Viruta» in einem Keller in Buenos Aires hängen Poster von Tangostars. Die leere, dunkle Tanzfläche symbolisiert die pandemiebedingte Krise für Tänzer und Musiker der Kunstform, die für engen Körperkontakt und wechselnde Tanzpartner bekannt ist.

Wie andere Tangoclubs ist das «Viruta» seit dem 8. März 2020 geschlossen. Zu dieser Zeit verhängten die argentinischen Behörden eine strikte Kontaktbeschränkungen in der Hoffnung, die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. In der Tanzschule waren sonst von Mittwoch bis Sonntag Hunderte Tangotänzerinnen- und -tänzer zu Gast und liessen die Atmosphäre aus der Blütezeit des Schreittanzes in den 1940er Jahren wiederaufleben. «Für diejenigen von uns, die ihren Lebensunterhalt mit dem Tango verdienen, ist das Selbstwertgefühl am Boden», sagt der Tänzer, Historiker und Cluborganisator Horacio Godoy im «Viruta». «Wir sind eher emotional als finanziell bankrott.»

Kein Tourismus, kein Tango

Ähnlich schädigend wirkte sich die Schliessung der Grenzen aus, in deren Folge keine Touristen mehr ins Land kamen. Der Tourismus ist die Hauptfinanzierungsquelle für die heimische Tango-Industrie. Tango-Tourneen ins Ausland wurden ebenfalls abgesagt, da Argentinien auch mehr als ein Jahr nach Beginn weiter unter hohen Infektionszahlen leidet. Mehr als 80'000 Menschen starben in dem Land bislang an oder mit Covid-19.

Godoy verdient sich nun ein bisschen Geld mit Online-Tango-Kursen für Ausländer. Die kommunalen Hilfen für Tänzer und Musiker reichten nicht zur Deckung der Kosten des «Viruta» aus. Von 18 Mitarbeitern konnten nur drei ihre Jobs behalten. «Die Stadt Buenos Aires hat keine Geschichte zu bieten wie Rom und Paris. Sie hat keinen Strand zu bieten wie in der Karibik», sagt er. «Sie hat keine Gastronomie zu bieten wie Italien. Sie hat keine Wasserfälle oder Gletscher. Die Stadt Buenos Aires hat den Tango.»

Ein Fünftel der Schulen machte dicht

Landesweit waren nach Angaben des Branchengewerkschaft rund 7000 Menschen in der Tango-Branche beschäftigt. Doch seit 2020 haben etwa 40 der insgesamt 200 Tangoschulen endgültig dichtgemacht. Von etwa 40 Unternehmen für Tango-Schuhe und -Bekleidung überlebte nur rund ein Dutzend.

Obwohl der Tango ein Stützpfeiler und Symbol der argentinischen Kultur ist, bekommt er keine speziellen Subventionen. «Tango-Arbeiter haben schon lange vor der Pandemie unter einer ständigen Job-Unsicherheit gelitten», sagt Diego Benbassat, Musiker im Orchester Misteriosa Buenos Aires und Gewerkschaftssprecher. «Die Politik hat sich nie speziell mit dem Tango beschäftigt, deshalb sind wir so vulnerabel.»

Auch Mora Godoy, die einst Barack Obama Tango-Schritte beibrachte und für ihre internationalen Auftritte gefeiert wurde, musste ihre Tanzschule schliessen. «2019 habe ich 419 Shows mit meiner Tango-Truppe absolviert. 2020 hatten wir schon mehr als 100 hinter uns, als alles geschlossen wurde und dieser Wahnsinn, diese Traurigkeit, diese Welttragödie begonnen hat», sagte sie.

«Alles ist eingefroren»

Eine Ecke in ihrer Wohnung ist mit Fotos der Tänze dekoriert, die vor der Pandemie ihr Leben ausmachten. Eines ihrer liebsten zeigt sie mit dem damaligen US-Präsidenten Obama, dessen Hand auf ihrem Rücken ruht, während beide zum Rhythmus des Songs «Por una cabeza» von Carlos Gardel tanzen. Das Foto wurde 2016 aufgenommen, als Obama zu einem Staatsbesuch in Argentinien war. «Es ist sehr schmerzhaft, nicht tanzen zu können», sagte Godoy. Einige Tango-Profis verdienten sich inzwischen ihren Lebensunterhalt als Taxifahrer oder Lebensmittelverkäufer.

«Alles ist eingefroren», sagte der Musiker und Tänzer Nicolás Ponce, der sich in der Corona-Zeit mit dem Verkauf von Pflanzen selbstständig gemacht hat. Die Essenz des Tangos mache es so schwierig, den Tanz in der Krise ausüben zu können. «Ein Teil des Erfolgs geht auf die Körperlichkeit des Tangos zurück, auf den Akt, sich gegenseitig zu umarmen», erklärte er. «Im Leben nimmt man nicht jeden in den Arm. Es ist das Gefühl der Umarmung, durch das sich der Tango von anderen Tänzen abhebt.»

Sehnsucht nach Nähe

Die Sehnsucht nach dieser Nähe führt dazu, dass viele Tango-Tänzer, genannt Tangueros, den Corona-Beschränkungen trotzen und im Freien tanzen. An einem Samstag trafen sich kürzlich ein Dutzend Paare zum gemeinsamen Tanz am berühmten Obelisken im Zentrum von Buenos Aires, einige sogar ohne Maske. Auf dem Gehweg stand ein Schild der Tanzlehrerin Luciana Fuentes mit der Aufschrift: «Tango an der frischen Luft ist Gesundheit. Was gefährlich ist, ist die Bewegungslosigkeit.»

«Wir haben nicht nur Covid», sagte Fuentes. «Ich habe Angst, dass meine Muskeln eines Tages verlernen werden zu tanzen. Ich übe jeden Tag alleine mit einem Besen in meinem Haus.» «Ich bin nicht gegen die Quarantäne», betont die Tanzlehrerin. «Ich glaube nicht, dass Covid nicht existiert. Ich schütze mich. Aber ich werde nicht aufhören, an öffentlichen Plätzen Tango zu tanzen.»

Von Débora Rey, AP