Tiefer Wasserstand Kaum Wasser im Fluss: Hungersteine tauchen als Mahnmal auf

Von Jan Marchal, Afp

21.9.2018

Heute finden sich noch etwa 20 solcher Blöcke mit Jahreszahlen und Inschriften aus den vergangenen Jahrhunderten an den Ufern der 1.109 Kilometer langen Elbe.
Heute finden sich noch etwa 20 solcher Blöcke mit Jahreszahlen und Inschriften aus den vergangenen Jahrhunderten an den Ufern der 1.109 Kilometer langen Elbe.
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Wie in den Schweizer Flüssen ist der Wasserstand in allen Fliessgewässern Europas niedrig. Besonders an der Elbe kommen derzeit ganz spezielle Steine ans Licht. Die Hungersteine sind ein unheimliches Mahnmal.

Die Elbe ist nach dem langen trockenen Sommer mancherorts nur noch ein Rinnsal gemessen an ihrer üblichen Wassermenge. Während die Schifffahrt weitgehend ruht, ragen nun Hungersteine als unheimliche Mahnmale aus dem Flussbett. Ein besonders grosser Gesteinsbrocken wurde im böhmischen Decín nördlich der Hauptstadt Prag sichtbar – er hat die Grösse eines Lieferwagens und trägt die unheilvolle deutsche Inschrift «Wenn du mich siehst, dann weine».

Der Schiffer und Gastwirt Franz Mayer meisselte die Worte während einer Niedrigwasserperiode 1904, als das Land zum österreichisch-ungarischen Reich gehörte, in den Stein. Nur bei niedrigem Wasserstand sichtbar künden die Inschriften von Dürrejahren und Hungersnöten. Auch im sächsischen Teil des Flusses, etwa bei Dresden, wurden zahlreiche der steinernen Zeitzeugen freigelegt.

Daten in den Stein gemeisselt

«Jahrhundertelang haben sich viele Leute an der Elbe ihren Lebensunterhalt als Flösser verdient, und wenn es nicht genug Wasser zum Flössen gab, verloren sie ihr Auskommen, erzählt Vlastimil Pazourek, Leiter des Museums in der 50.000-Einwohner-Stadt Decín. «Die arbeitslosen Flösser meisselten die Daten dieser schlimmen Jahre in die weichen Sandsteinblöcke.»

Heute finden sich noch etwa 20 solcher Blöcke mit Jahreszahlen und Inschriften aus den vergangenen Jahrhunderten an den Ufern der 1.109 Kilometer langen Elbe. Der Hungerstein am linken Ufer in Decín etwa 20 Kilometer von der deutschen Grenze trägt mit 1616 eine der ältesten Datierungen. Viel ist passiert, seit Franz Mayer seine Klage in den Stein gehauen hat: Seither wurde das Flussbett der Elbe vertieft, um die Schifffahrt zu erleichtern, und auf der Vltava, ihrem Hauptzufluss, wurden im 20. Jahrhundert neun Dämme gebaut.

Mit drei Metern ist ihr durchschnittlicher Pegel in Decín heute nach Angaben Pazoureks rund 150 Zentimeter niedriger als 1904. Teile des Hungersteins sind nach seinen Worten inzwischen mehr als hundert Tage im Jahr sichtbar, sobald der Pegel bei 160 Zentimetern liegt. «Der Hungerstein ist sicherlich mehr als eine historische Kuriosität», sagt Jiri Petr, leitender Angestellter beim staatlichen Wasserwirtschaftsbetrieb Povodi Labe. Viele lesen in den Botschaften der Steine Warnungen vor den Folgen des Klimawandels.

Mit drei Metern ist ihr durchschnittlicher Pegel in Decín heute nach Angaben Pazoureks rund 150 Zentimeter niedriger als 1904.
Mit drei Metern ist ihr durchschnittlicher Pegel in Decín heute nach Angaben Pazoureks rund 150 Zentimeter niedriger als 1904.
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Prag erlebte heissesten Sommer seit Aufzeichnungsbeginn

Nach offiziellen Angaben erlebte Prag den heissesten Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1775. Anfang der Woche lag der Pegelstand bei nur noch 82 Zentimeter, was den Transportverkehr auf dem Fluss unmöglich machte. Bei Decín waren es am Donnerstag 97 Zentimeter, bei Dresden nur maximal 48 Zentimeter im Tagesverlauf.

«Wenn der Elbe-Pegel in Decín auf rund 250 Zentimeter fällt, bekommen wir Schwierigkeiten, wenn er unter 115 Zentimeter fällt, ist die Flussschifffahrt nicht mehr möglich», sagt Petr. «Eine ähnliche Situation hatten wir 2015 und 2016, doch in diesem Jahr fiel der Pegel so schnell wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht."

Experten zufolge wird dies in den kommenden Jahren zur Normalität. «Aufgrund des Klimawandels werden niedrige Pegelstände noch häufiger auftreten», wird der Potsdamer Hydrologe Tobias Conradt in einer Erklärung der Prager Umweltorganisation Arnika zitiert. «Was wir heute für extrem halten, wird in den kommenden Jahrzehnten zur alltäglichen Realität.»

Bis in die 1990er Jahre wurden auf der Elbe jährlich rund fünf Millionen Tonnen Güter transportiert, in den vergangenen Jahren sank diese Zahl aufgrund von Niedrigwasser drastisch auf unter eine Million. Die diesjährige Dürre betraf rund 94 Prozent der Tschechischen Republik und verursachte nach Angaben der Landwirtschaftskammer Ernteausfälle bis zu 427 Millionen Euro. Es wird deswegen keine Hungersnot ausbrechen, aber die unheilvollen Botschaften der Hungersteine scheinen aktueller denn je.

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