Deutschland Pop ohne Pandemie-Bremse: Der opulente Klang hat die Krise überlebt

SDA

10.4.2022 - 11:37

HANDOUT - Die pure Schönheit des Schwelgens: Sondre Lerche. Foto: Tonje Thilesen/GM/Missing Piece Group/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über das Album und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits
HANDOUT - Die pure Schönheit des Schwelgens: Sondre Lerche. Foto: Tonje Thilesen/GM/Missing Piece Group/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über das Album und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits
Keystone

Paul McCartney neigt bei Albumproduktionen bekanntlich nicht zum Understatement. Pandemiebedingt nahm der Ex-Beatle seine jüngste Soloplatte 2020 jedoch fast ganz allein im Lockdown-Modus auf – es ging nicht anders. Viele Musikstars berichten, dass sie wegen Corona zwar nicht weniger kreativ sind, aber nur noch über begrenzte studiotechnische oder personelle Mittel verfügen – etwa durch oft nötige «Kontaktbeschränkungen» auch für Künstler. Der opulente Klang in Rock und Pop hat die Krise gleichwohl gut überstanden, wie einige aufwendige Veröffentlichungen im Musik-Frühjahr 2022 zeigen.

Keystone-SDA

So hat der norwegische Singer-Songwriter Sondre Lerche (39) in Bergen im hohen Norden Europas ein Doppelalbum zusammengeschraubt, das in 90 Minuten Laufzeit mit stilvollen Streicher-Sounds, schlauen Electro-Rhythmen und überwältigenden Melodien nur so um sich wirft. Der bereits vor 20 Jahren international als Supertalent aufgefallene Musiker konnte mit «Avatars Of Love» auch in der Pandemie ein romantisches Pop-Musical erschaffen, das den Corona-Zumutungen die pure Schönheit des Schwelgens im «Sophisticated Pop» entgegensetzt.

«Ich war allein auf Tournee in Norwegen während des ersten Sommers der Pandemie, als die Songs nur so aus mir herausströmten», erzählte Lerche über seine Leistungsexplosion. «Dieses Album war für mich eine vollständige Befreiung.» Die 15 neuen Lieder, vor allem das zehnminütige Titelstück mit herzergreifendem Lyric-Video, zeigen ihn als grossen Komponisten, klugen Texter und Meister des Cinemascope. Seine vielfältigen Einflüsse reichen von Bossa Nova über Indiepop bis Jazz; der Sound vereint Chet Baker und Caetano Veloso, Leonard Cohen und Paul McCartney, Prefab Sprout und die Pet Shop Boys. Und doch klingt «Avatars Of Love» stets faszinierend nach Sondre Lerche.

Auch andere Pop-Künstler tragen mit ihren neuen Studioalben derzeit dick auf – von spartanischer Produktion im stillen Corona-Kämmerlein also keine Spur.

Get Well Soon: Wie Lerche wurde auch Konstantin Gropper, Mastermind dieses Bandprojekts aus Mannheim, im September 1982 geboren. Und noch konsequenter hat er sich in seiner Karriere einem bombastischen Pop zwischen David Bowie, Nick Cave und Pet Shop Boys verschrieben. Auch die sechste Studioplatte «Amen» spart nicht mit Pauken und Trompeten. «Was soll ich gross drum herum reden: Es ist natürlich ein Pandemie-Album», sagt Gropper (39). Dass die Lieder – geschrieben im Lockdown 2021 – hauptsächlich in seinem Keller und einem Pfälzer Ferienhaus aufgenommen wurden, hört man aber zu keiner Sekunde. Das Überraschendste: Der früher oft düster daherkommende Gropper (das Vorgängeralbum hiess «The Horror") outet sich in den Texten seiner vielschichtigen Songs ausgerechnet jetzt als – Optimist.

Peter Doherty: Dass der einstige Krawallbruder von The Libertines oder Babyshambles erwachsen geworden ist, zeigt sich nicht nur in der Erweiterung des Vornamens – aus Pete wurde Peter. Das von Doherty (43) getextete, von Frédéric Lo (57) komponierte Album «The Fantasy Life Of Poetry & Crime» kombiniert die Songpoesie des Briten mit den leicht dekadenten Streicher- und Piano-Arrangements des Franzosen. Auch diese Lieder sind Lockdown-Produkte, die allem Corona-Frust trotzen. Aufgenommen wurde das Freundschaftswerk in der Normandie und in Paris – das Ergebnis klingt so «très charmant», wie ein ins Leben zurückgekehrter Ex-Junkie und Scott-Walker-Verehrer mit angenehm windschiefer Stimme eben klingen kann. Welcome back, Peter!

Spiritualized: Noch ein langjähriger Drogen-Freund, der seine inneren Dämonen stets mit gewaltigen Wall-Of-Sound-Platten bekämpfte. Zwar sagte Frontmann Jason Pierce (56) jüngst dem «Rolling Stone»: «Ich bin eigentlich eng mit der Stumpfheit des Rock'n'Roll verbunden.» Doch sein neues, in elf Studios aufgenommenes Opus magnum «Everything Was Beautiful» klingt ganz anders. Der Engländer setzt in nur sieben Stücken wieder auf ein kathedralenhaftes Klangbild und nimmt den Vorwurf des Grössenwahns dafür gern in Kauf. Von Social Distancing konnte bei den Sessions mit Streicher- und Bläsergruppen, Chören und befreundeten Musikern keine Rede sein: Über 30 Personen waren an der neuen Spacerock-Reise von Spiritualized beteiligt.

Father John Misty: Auch Josh Tillman (40), der US-Songwriter mit dem seltsamen Alias-Namen, hält nichts von Geiz-Produktionen – nicht mal in der Krise. Verneigte er sich zuletzt vor Seventies-Pop-Ikonen wie Elton John, so geht er mit seinem fünften Album «Chloë And The Next 20th Century» auf dem Retro-Zeitstrahl noch weiter zurück. Im herrlichen Streicher-Ambiente widmet sich dieser begnadete Sänger der 80 Jahre zurückliegenden Ära plüschiger Balladen und entdeckt seinen inneren «Frankie Boy» Sinatra. Wie bei Sondre Lerche vermitteln die reich verzierten Songs Broadway-Feeling. Nun wartet die Pop-Welt auf das erste Musical von Father John Misty.

Angel Olsen: Neigen eigentlich nur die Herren der Schöpfung dazu, ihr Ego in ehrgeizigen Bombast-Produktionen auszuleben? Die mit Spannung erwartete neue Platte der US-Sängerin Angel Olsen (35) spricht dagegen. Ihr für Juni angekündigtes Album heisst nicht umsonst «Big Time». Es geht um den grossen, befreienden Moment des Coming-outs, um die Bewältigung schwerer Zeiten mit orchestralen Songs. Im Studio half – wie bei Father John Misty – der unfehlbare Jonathan Wilson. In triumphalen Arrangements zwischen Country und Sixties-Soul blitzt das Genie von Dusty Springfield oder Tammy Wynette auf. Spätestens das mit atemberaubenden Bläsern versehene «Go Home» lässt den Hörer erschüttert zurück. So geht er, der grosse Pop ohne Pandemie-Bremse.