Furchtbares Verbrechen Sexualmorde an Kindern rütteln Indien auf

Von Nick Kaiser, dpa

2.5.2018

Ein furchtbares Verbrechen hat Indien erschüttert wie lange kein anderes. Die Vergewaltigung und der Mord an einem achtjährigen Mädchen lösten Proteste aus, die Regierung handelte. Ihre Lösung scheint aber das Problem zu verfehlen.

Manche sehen das Verbrechen an einer Achtjährigen als zweiten Weckruf, wenn es um Indiens Problem mit sexueller Gewalt geht. Den ersten hatte es im Jahr 2012 gegeben: Proteste nach der tödlichen Gruppenvergewaltigung einer Studentin in einem Bus in Neu Delhi hatten zu schärferen Gesetzen geführt. Ähnlich ist es im Fall der Achtjährigen in einem Dorf nahe der nordindischen Stadt Kathua abgelaufen.

Das Mädchen war entführt, tagelang in einem Tempel von mehreren Männern vergewaltigt und dann ermordet worden. Tausende Menschen gingen in den vergangenen Wochen in mehreren Städten auf die Strasse und verlangten Gerechtigkeit. «Erhängt die Täter» und «Tod den Vergewaltigern» stand auf einigen Schildern.

Daraufhin beschloss Indiens Regierung, die Vergewaltigung von Mädchen unter zwölf Jahren unter Todesstrafe zu stellen. Dasselbe Höchstmass gilt seit dem Fall in der Hauptstadt Neu Delhi auch für Vergewaltigung mit Todesfolge. Das hat jedoch wenig an der traurigen Regelmässigkeit grausamer Vergewaltigungen in Indien geändert.

Der jüngste Weckruf lenkt nun die Aufmerksamkeit darauf, wie oft die Opfer Kinder sind. Kürzlich wurden innerhalb von zwei Tagen unabhängig von einander drei Mädchen im Alter zwischen sieben und elf Jahren von Hochzeitsfeiern weggelockt, vergewaltigt und ermordet. Erst am Sonntag starb eine Sechsjährige gut eine Woche, nachdem sie abends in ihrer Schule vergewaltigt worden war - am Tag, als die Verordnung über die Todesstrafe erlassen wurde. Dass die solche Verbrechen verhindern kann, bezweifeln viele Beobachter.

Proteste im indischen Bangalore.
Proteste im indischen Bangalore.
Keystone

Hohe Dunkelziffer

In einer staatlichen Studie von 2007 gab ungefähr jedes zweite Kind an, sexuellen Missbrauch erfahren zu haben. 12'000 Kinder in mehreren Bundesstaaten waren befragt worden. «Anhand unserer Erfahrung würde ich die Zahl viel höher schätzen - auf etwa 85 bis 90 Prozent», sagt Ashwini Ailawadi, Mitgründer der Rahi-Stiftung in Neu Delhi. Die Organisation betreut erwachsene Frauen, die als Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, und fördert das Bewusstsein für das Problem in der Öffentlichkeit.

Nach offiziellen Statistiken wurden 2016 in Indien mehr als 19'000 Vergewaltigungen von Minderjährigen erfasst. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, denn fast immer stammt der Täter aus dem Familienumfeld des Opfers - da fällt es noch schwerer als ohnehin schon, Anzeige bei der oft korrupten oder unprofessionellen Polizei zu erstatten.

«Das indische Familiensystem begünstigt Missbrauch», sagt Ailawadi. Den Kindern werde beigebracht, Älteren zu gehorchen und ihnen Respekt zu zollen. Ein Kind dürfe den Mund nicht aufmachen. «An wen wendet er oder sie sich also?», fragt Ailawadi. Zumal die Rolle der Frau in indischen Familien die Sache erschwere: «Angenommen, der Täter ist der Vater oder ein älterer Mann in der Familie, von dem die Frau finanziell abhängig ist - die Frau hat keine Macht, es anzusprechen oder dem Kind zu helfen.»

Die Politik-Professorin und Feministin Nivedita Menon spricht von sexueller Gewalt als «Kriegswaffe». In Indien werde diese routinemässig als Strafe für Verstösse gegen die traditionelle Machtstruktur eingesetzt, etwa gegen Angehörige niedriger Kasten. «Bei Vergewaltigung und sexueller Gewalt geht es um Macht, nicht Sex», sagt Menon. «Das Machtverhältnis ist natürlich noch deutlicher, wenn das Opfer ein Kind ist.»

Ein Fall unter vielen: Guru Asaram Bapu wurde wegen Vergewaltigung einer Anhängerin verurteilt. (Archivbild)
Ein Fall unter vielen: Guru Asaram Bapu wurde wegen Vergewaltigung einer Anhängerin verurteilt. (Archivbild)

55 Kinder werden jeden Tag vergewaltigt

Der Sexualmord an der Achtjährigen in Kathua war nach Ansicht von Menon ein Paradebeispiel für den Gebrauch einer Vergewaltigung als Kriegswaffe. Die acht hinduistischen Verdächtigen, darunter zwei Polizisten, wollten nach Angaben der Polizei mit ihrem Verbrechen eine Gemeinde muslimischer Nomaden, zu denen das Mädchen gehörte, aus der Gegend vertreiben.

Bei all der sexuellen Gewalt in Indien hat dieser Fall auch deshalb besondere Empörung ausgelöst, weil radikale Hindus, darunter Politiker der Regierungspartei BJP, für die Freilassung der Verdächtigen demonstrierten. Premierminister Narendra Modi wurde auch international dafür kritisiert, dass er lange schwieg - auch zu einem weiteren Fall: Eine Jugendliche hatte versucht, sich vor dem Haus des Regierungschefs des Bundesstaates Uttar Pradesh anzuzünden. Der Grund: Die Polizei hatte ihre Anzeige wegen Vergewaltigung gegen einen Lokalabgeordneten der BJP ihr zufolge nicht aufnehmen wollen.

Für Verstrickungen von Politik und Polizei ist die Todesstrafe ebenso wenig eine Lösung wie für Indiens ineffektive Justiz. Nach einem neuen Bericht der Stiftung des Friedensnobelpreisträgers Kailash Satyarthi würde es rund 20 Jahre dauern, den gesamten Rückstau an Zehntausenden unabgeschlossenen Verfahren wegen Kindesmissbrauchs im Land aufzuarbeiten - und das auch nur, wenn keine neuen Fälle hinzukämen.

Jeden Tag würden 55 Kinder in Indien vergewaltigt, twitterte der Kinderrechtsaktivist Satyarthi. «Der alarmierende und unaufhaltsame Anstieg von Vergewaltigung und Missbrauch unserer Kinder erfordert einen nationalen Ausnahmezustand.»

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