Nach Hochwasser Wenn in Venedig auf einmal die Touristen fehlen

dpa/toko

8.2.2020

Leere Gondeln vor dem Markusplatz in Venedig. Drei Monate nach dem dramatischen Hochwasser passiert etwas seltsames. Venedig klagt auf einmal über zu wenig Besucher.
Leere Gondeln vor dem Markusplatz in Venedig. Drei Monate nach dem dramatischen Hochwasser passiert etwas seltsames. Venedig klagt auf einmal über zu wenig Besucher.
Bild: Annette Reuther/dpa

Karneval ist eigentlich Hochsaison in Venedig. Doch diesmal ist alles anders. Drei Monate nach dem dramatischen Hochwasser passiert etwas Seltsames: Venedig klagt über zu wenig Besucher.

Auf dem Weg ins Untergeschoss des Markusdoms riecht es mit jedem Schritt modriger. Die Luft ist feucht, das Licht schummrig. Pierpaolo Campostrini streift mit seiner Hand am Gemäuer entlang. Er zerreibt ein paar Steinchen mit den Fingern und schleckt dann daran: «Das schmeckt salzig.»

Campostrini ist als Prokurator für die Sicherheit des Markusdoms in Venedig zuständig. Er steht in der Krypta unter der mächtigen Basilika und zeigt auf ein kleines vergittertes Fenster: «Hier kam das Wasser rein, es strömte hinein wie ein Fluss.»

Es war der 12. November, als Venedig untertauchte. Bei der schlimmsten Überschwemmung seit mehr als 50 Jahren stand der grösste Teil der Unesco-Stadt in Italien unter Wasser. Auch ihr bekanntestes Wahrzeichen, der Markusdom, bekam Schäden ab. Das Salzwasser stand in der Krypta und drang durch das Gemäuer. Es zog sich bis nach oben zu den Mosaiken an der Decke. «Es war, als hätte die Mauer geweint», sagt Campostrini.

Viel ist von den Schäden drei Monate danach nicht mehr zu sehen. Aber der Feind sitzt in den Wänden. Denn das Wasser trocknet, es lässt aber das Salz zurück, das die feinen Gemäuer und den Marmor langsam zersetzt. «Bei einem Erdbeben siehst du die Schäden sofort, aber hier handelt es sich um ein beschleunigtes Altern. Es ist, als wäre eine alte Dame plötzlich um 50 Jahre gealtert», sagt Campostrini.

Pierpaolo Campostrini, Prokurator des Markusdoms, steht in der Krypta der Basilika und zeigt auf das Fenster, durch das das Hochwasser im November 2019 gedrungen ist.
Pierpaolo Campostrini, Prokurator des Markusdoms, steht in der Krypta der Basilika und zeigt auf das Fenster, durch das das Hochwasser im November 2019 gedrungen ist.
Bild: Annette Reuther/dpa

Oben durch den Dom strömt goldenes Nachmittagslicht. Ein paar kleinere Touristengruppen wandern umher. Draussen vor der Tür wird auf dem Markusplatz der Karneval vorbereitet. Ein paar Tauben picken Brotkrumen auf. Ein Mann wartet an einem Fotostand auf Kunden. Karneval ist einer der touristischen Höhepunkte des Jahres in Venedig. Aber diesmal ist alles anders: Kein Gedränge, keine Touristenmassen. In den kleinen Gassen ist nur vereinzelt das Klackern von Absätzen zu hören.

«Wir hatten einen katastrophalen Dezember, mit einer kleinen Erholung um Neujahr herum», sagt Paola Mar, Tourismusbeauftragte der Stadt. Über die rund zwei Wochen langen Karnevalsfeiern würden mehr Besucher erwartet. «Aber im März wird es wieder sehr wenig sein.» Denn zum «Acqua Alta» kam auch noch der Coronavirus hinzu, weshalb weniger chinesische Touristen kommen. Doch das sei nicht so sehr spürbar, sagt Mar, da die meisten Besucher in Venedig aus den USA und Europa kämen.

«Psychose» verängstigter Besucher

Das Problem beim Hochwasser seien auch «Fake News» gewesen. «In Indien dachten einige sogar, wir hatten hier 250 Tote durch das Hochwasser», erzählt sie. Viele glaubten, die Stadt habe kontinuierlich unter Wasser gestanden. Aber die Flut zog sich nach einigen Stunden wieder zurück.

Hoteliers sprechen von einer «Psychose» verängstigter Besucher. Sie erzählen, Menschen hätten angerufen und gefragt, ob sie mit ihren Kindern kommen könnten oder ob es zu gefährlich sei. Das Hochwasser habe am 12. November 1,87 Meter über dem normalen Meeresspiegel gestanden - das bedeute aber nicht, dass es 1,87 Meter hoch in den Strassen stehe und Menschen unter dieser Grösse untergehen. Das heisse vielmehr: Bei einer Flut von 1,87 Meter steht ein Erwachsener auf dem Markusplatz - dem niedrigsten Punkt Venedigs - ungefähr bis zur Hüfte im Wasser.

Die Bilder vom Hochwasser hätten den falschen Eindruck hinterlassen, dass ganz Venedig zerstört sei, klagt der venezianische Hotelverband. Die Buchungen seien extrem zurückgegangen. Auch die städtischen Museen inklusive Dogenpalast bemerken einen Rückgang. Im Dezember machten sie im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein Minus von 25 Prozent bei den Besuchern. Im Januar waren es minus acht Prozent.

Eine Milliarde Schaden

Insgesamt beziffert die Stadt die Schäden durch das Hochwasser auf mehr als eine Milliarde Euro (rund 1,07 Milliarden Franken). Aber im Stadtbild sieht man das kaum. Restaurants, Cafès und Bars, Museen und Hotels waren nach wenigen Tagen wieder betriebsbereit. Defekte Kühlschränke wurden ausgetauscht, kaputte Leitungen wieder instandgesetzt und Möbel getrocknet.

Vertreter der Stadt und Hoteliers rufen bei einer eigens organisierten Veranstaltung Journalisten auf, der Welt zu berichten, dass Venedig funktionsfähig, sicher und - ja, auch das betonen sie - schön sei. Es ist eine absurde Situation: Venedig - die Stadt, die wie kaum eine andere unter «Overtourism» leidet und über Einschränkungen jeder Art nachdenkt - bittet auf einmal um Besucher.

Hochwasser steht im Innenraum der San Moise Kirche.
Hochwasser steht im Innenraum der San Moise Kirche.
Bild: Claudio Furlan/LaPresse via ZUMA Press/dpa (Archivbild)

Auch Bürgermeister Luigi Brugnaro redet ohne Unterlass von der Schönheit Venedigs, als erschliesse diese sich nicht jedem Besucher vom ersten Moment an, wenn er «La Serenissima» betritt. «Viele meinen, wir stehen immer noch unter Wasser», sagt er. «Aber Venedig ist jetzt noch schöner als normalerweise.»

Denn Besucher hätten ausnahmsweise die Chance, eine Stadt zu erleben, die nicht von Touristen erstickt wird. Die Hotels seien normalerweise über Karneval zu 100 Prozent ausgebucht - jetzt nur zu 80 Prozent. «Man kann also in letzter Minute noch ein Hotel buchen, das ist nicht immer so», betont Brugnaro.

Derselbe Bürgermeister, der nun um Touristen wirbt, warnt sonst vor Massentourismus. Im Juli soll ein Einlasssystem starten, bei dem Tagestouristen zur Kasse gebeten werden. Denn diese sind in Venedig die ungeliebten Besucher. «Das Eintrittsgeld gilt nur für die, die nicht hier übernachten», erklärt Brugnaro. Denn die würden ihre Rucksäcke voll mit Essen, Wasser und Windeln für Babys packen und kein Geld in der Stadt ausgeben. Drei bis zehn Euro soll der Einlass je nach Saison kosten.

Sicher, es ist nur ein Teil der Menschen in Venedig, die nun um Touristen bitten. Der Rest ist einfach froh, dass ein wenig Ruhe eingekehrt ist. Eine Zeit, in der die Stadt reflektieren könnte, was es neben dem Tourismus sonst noch gibt. Wie die Bürger wieder zurück in das historische Zentrum ziehen können. Wie Handwerker nicht weggehen müssen. Wie Platz für Kreative oder Studenten geschaffen werden könnte. Und wie die Stadt wirklich vor einem ansteigenden Meeresspiegel durch den Klimawandel geschützt werden kann.

Verletzlichkeit Venedigs

Das Hochwasser hat das Augenmerk eindrücklich auf die Verletzlichkeit Venedigs gelenkt. Die gesamte Stadt liegt in der Lagune, von der das Meer vor allem in den Herbst- und Wintermonaten hereindrückt. Mit drei großen Flutbarrieren an drei Eingängen zur Lagune soll Venedig nun bald besser geschützt sein. Mehr als fünf Milliarden Euro (rund 5,35 Milliarden Franken) kostet das Projekt namens «Mose», das schon seit 17 Jahren geplant, aber immer noch nicht fertig ist.

Schuld ist ein Mix aus Bürokratie, Korruption, politischen und wirtschaftlichen Interessen, Bedenken von Umweltschützern, Protesten, Verschwörungstheorien und Pannen. Es wurden Kommissare ernannt und abgesetzt, Komitees gebildet und aufgelöst.

Die Skepsis, dass «Mose» wirklich vor Fluten schützt, ist gross. Nicht wenige Venezianer glauben, dass das Projekt schon längst veraltet ist, wenn es denn mal in Betrieb gehen sollte. «Viele Leute denken, dass es nicht funktioniert, dass alles schon rostig ist. Aber ich versuche zu erklären, dass es nicht so ist», sagt Baustellenleiter Alessandro Soru. Ende nächsten Jahres soll es nun wirklich soweit sein und in Betrieb gehen.

Der Markusdom, italienisch San Marco, soll schon vorher eine Schutzwand bekommen. Denn auf «Mose» kann das Weltkulturerbe nicht warten. Vor allem die Häufigkeit, mit der Hochwasser neuerdings kämen, richte grosse Schäden an, erklärt Prokurator Campostrini. Daher soll der Dom im Frühsommer mit einer etwa hüfthohen Barriere «umzäunt» werden. «Wir haben die Technologie, um auf den Mond zu fliegen», meint er. «Dann müssen wir auch Technologien haben, um das Wasser von San Marco fernzuhalten.»


Bilder des Tages

Zurück zur Startseite