Lisy Fischer Ein Schweizer Piano-Wunderkind, das die Zeit vergessen hat

Von Philipp Dahm

22.8.2020

Lisy Fischer begeisterte Anfang des 20. Jahrhunderts die deutschsprachige Kulturelite.
Lisy Fischer begeisterte Anfang des 20. Jahrhunderts die deutschsprachige Kulturelite.
Bild: Gemeinfrei

Vor 120 Jahren ist in Zürich ein Piano-Wunderkind auf die Welt gekommen, deren jüdische Eltern einst aus Deutschland in die Schweiz gekommen waren. Lisy Fischer wird zum grossen Star – und verschwindet dann.

Lisy Fischer ist ein Mysterium. Nicht nur weil das Mädchen schon im Kleinkind-Alter das Klavierspiel erlernt, bereits mit elf Jahren gefeierte Konzerte gibt und mit 20 Jahren in ganz Europa spielt, sondern weil sich in den 1930er-Jahren ihre Spur fast endgültig verliert.

Lisy Fischer kommt am 22. August 1900 in Zürich zur Welt: Sie wird als einzige ihrer Familie in der Schweiz geboren, doch während ihr Bruder und ihre Eltern in ihrer neuen Heimat sterben werden, ist Elisabeth, wie sie richtig heisst, wieder die Ausnahme: Sie geht nach England, wo sie 1999 in aller Stille aus dem Leben scheidet.

Ihr Vater Arthur alias Avraham wird 1866 in Deutsch Eylau in Westpreussen geboren und heiratet 1892 Bertha Hochstetter, die aus einer jüdischen Künstlerfamilie aus Liedolsheim aus Karlsruhe stammt. Das Paar geht zurück nach Ostpreussen und bekommt im August 1897 in Marienwerder ihren Sohn Robert. Am 11. Juli siedelt die Kleinfamilie nach Zürich über.

Talentiertes Wunderkind

Die kleine Elisabeth alias Lisy lebt nur bis zu ihrem vierten Lebensjahr in der Limmatstadt; im Herbst 1904 zügelt die Familie nach Genf. Das Mädchen dürfte aber schon damals ihre ersten Klavierstunden genossen haben, denn im Alter von elf Jahren beeindruckt das Piano-Wunderkind seine Zuhörenden bereits mit aufsehenerregenden Konzerten.

Als Elisabeth, die im Hebräischen Esther heisst, 13 Jahre alt ist, gibt sie Konzerte in Paris. Die Zeitungen loben mal ihren «leichten Anschlag und feinen, delikaten Stil» («Le Genevois» 1912) und mal ihre «graziöse und brillante Technik» («La Suisse» 1915). Allenthalben wird der Schweizerin eine grosse Zukunft vorausgesagt.

Tournee 1920 bis 1922: Loblieder ...
Tournee 1920 bis 1922: Loblieder ...
Bild: Gemeinfrei

Das künstlerische Talent hat Lisy eindeutig von ihrer Mutter Bertha: Aus deren Familie stammen jüdische Künstler wie der «Dreigroschen Oper»-Komponist Kurt Weil, der Literaturprofessor Gustav Hochstetter oder der Dirigent Cäsar Hochstetter. Die beiden Letztgenannten werden den Holocaust nicht überleben. Lisys Bruder Robert wird später als Journalist in Basel arbeiten.

Begeisterte Presse

Lisy hingegen zieht es zurück in die alte Heimat der Eltern: Obwohl der Erste Weltkrieg tobt, wird die Schweizerin am altehrwürdigen Stern’schen Konservatorium in Berlin aufgenommen, wo Sie ihr Spiel zwischen 1915 und 1920 perfektioniert. Ihr Vater, der Verkäufer ist, kann sie nur bedingt unterstützen: Lisy muss Klavierunterricht geben, um überleben zu können.

... auf das Schweizer Wunderkind.
... auf das Schweizer Wunderkind.
Bild: Gemeinfrei

Manchmal spielen auch Konzerte etwas ein. 1919 wird so die «Berliner Mittagszeitung» auf ihr «ausserordentliches Talent» aufmerksam. «Sie spielt mit viel Gefühl und Verstand», staunt 1920 der «Berliner Börsen-Courier». Das «Crossener Tageblatt» lobt im selben Jahr: «Fräulein Fischer ist ein Wunderkind im wahrsten Sinne des Wortes.»

Von 1920 bis 1922 gibt die Schweizerin Konzerte von Köln bis Stettin und von Baden bis Berlin. Zwichen 1922 und 1927 spielt sie oft im Schweizer Radio auf – doch leider gibt es keine Tonaufnahmen von damals. 1923 heiratet Lisy Fischer in Berlin den neun Jahre älteren Düsseldorfer Ernest Simson: Das Paar bekommt 1924 in Amsterdam eine Tochter.

Plötzlich wird es still um Lisy

Doch nach 1927 verliert sich plötzlich die Spur des Wunderkindes. Es heisst, sie habe als Musiklehrerin gearbeitet – aber wo sie gelebt hat, kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Lisys Vater Arthur starb 1929 in Genf, Mutter Bertha und Bruder Robert ebenda 1951 und 1963. Auch Ehemann Ernest Simson ist in Genf von dieser Welt gegangen – und zwar im Alter von 97 Jahren anno 1988.

Signierte Noten «Den verwundeten gewidmet» – und «Seiner nicht verwundeten, lieben Cousine und vorzüglichen Kollegin Lisy Fischer von ihrem, über ihre glänzenden Leistungen sehr verwunderten Cäsar Hochstetter».
Signierte Noten «Den verwundeten gewidmet» – und «Seiner nicht verwundeten, lieben Cousine und vorzüglichen Kollegin Lisy Fischer von ihrem, über ihre glänzenden Leistungen sehr verwunderten Cäsar Hochstetter».
Bild: Gemeinfrei

Wahrscheinlich war also auch Lisy nach Genf zurückgekehrt, doch nach Ernests Tod zog sie nach Newcastle Upon Tyne, wahrscheinlich zu ihrer Tochter «Gaby» Stern. Lisy starb dort im Alter von 98 Jahren 1999. Ihre Tochter Gaby folgte ihr 2012 nach.

Cäsar Hochstetter verschwand im Holocaust. Auch er lebte vorübergehend in Zürich: Seine Tochter Hella Leonora wurde 1905 dort geboren.
Cäsar Hochstetter verschwand im Holocaust. Auch er lebte vorübergehend in Zürich: Seine Tochter Hella Leonora wurde 1905 dort geboren.
Bild: Gemeinfrei

Vor 120 Jahren zog in Zürich ein vielversprechender neuer Stern am Musikhimmel auf. Ein Piano-Wunderkind, das eine hervorragende Ausbildung am Konservatorium genossen hat, das Europa mit seinem Spiel beeindruckt hat und die sich anschickte, eine der ganz grossen Pianistinnen zu werden.

Es ist ein Mysterium, warum der scheinbar steile Weg nach oben so sang- und klanglos unterbrochen wurde und der gleissende Stern so jäh abstürzte. Lisy Fischer begann als Wunderkind – und endete als Unbekannte.

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